9 Stunden Angst
etwas Derartiges gepredigt hatte. Er hatte nicht umsonst immer schlechte Noten im Religionsunterricht gehabt. Seine Anmerkung sorgte zumindest dafür, dass Denning nachdenklich innehielt.
»Vielleicht ja doch.«
»Vielleicht was?«
»Vielleicht hätte ich doch versucht, ihn davon abzuhalten. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, genauso wenig wie alles andere.«
»Ich würde behaupten, dass es wichtiger ist denn je. Schließlich treten Sie in Kürze wieder Ihren Eltern gegenüber.«
»Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Keine Ahnung, es ist einfach so.«
»Aber Sie werden doch in den Himmel aufsteigen, oder etwa nicht?«
»Dort sind meine Eltern nicht.«
»Dann sind sie also in der Hölle?«
»Vielleicht.«
»Ist Ihnen nie der Gedanken gekommen, dass Sie auch dort landen könnten, wenn Sie Hunderte Unschuldige umbringen?«
»Ich folge nur meiner Bestimmung.«
»Haben Sie schon einmal überlegt, dass es vielleicht gar nicht Gottes Wille ist, was Sie hier tun?«, fragte George und wandte all seine Energie auf, um ruhig und bedächtig zu klingen, obwohl er Denning am liebsten laut beschimpft und verflucht hätte. »Vielleicht haben Sie die Zeichen falsch gedeutet? Jeder Spinner, der derartige Gräueltaten begeht, glaubt, Gott stünde auf seiner Seite.«
»Warum sprechen Sie mit mir über Gott, wenn Sie gar nicht an ihn glauben?«
»Weil ich Ihnen vor Augen führen will, dass das, was Sie hier tun, nach jeglichen menschlichen oder religiösen Maßstäben falsch ist. Sie sind ein kaltblütiger Massenmörder, sonst nichts.«
»Nein, George, was ich hier tue, ist seit zweitausend Jahren vorherbestimmt.« Denning verstummte und hob wachsam lauschend den Kopf. Jemand näherte sich zwischen Waggonwand und Tunnel. Er hob sein Sturmgewehr und feuerte eine Salve ab, woraufhin die Geräusche aufhörten.
»Verstehen Sie denn nicht?«, fragte George. »Begreifen Sie nicht, dass es falsch ist, was Sie tun? Wenn es tatsächlich einen Gott geben sollte, wird er Sie verurteilen und verdammen. Geht das nicht in Ihren Kopf?«
Denning drehte sich um und richtete sein Gewehr auf George. »Hören Sie auf damit.«
»Gehe ich Ihnen auf die Nerven?«
»Ich möchte, dass Sie getauft und von Ihren Sünden reingewaschen werden, aber wenn Sie unbedingt als Sünder sterben wollen, bitte schön.«
George hielt seinem Blick stand und schwieg. Als Denning wieder ein verdächtiges Geräusch hörte, wandte er sich ab. Diesmal kam es nicht von der Seite, sondern von oben. Jemand war zwischen den Waggons aufs Dach geklettert und kroch nun so geräuschlos wie möglich in ihre Richtung. Unglücklicherweise verursachte die Kleidung desjenigen ein lautes Schleifen auf dem Metall. George würde nie erfahren, wer da sein Glück versuchte. Während Denning nach oben spähte und Winkel und Flugbahn seiner Kugel berechnete, stiegen ihm Tränen in die Augen. Nach einer kurzen Salve erstarben die Geräusche auf dem Dach.
»Diese Leute lernen es einfach nicht. Sie sind der Erlösung so nah und merken es nicht.« Denning drehte sich wieder zu George um. Er hielt das Gewehr in der einen Hand und presste die andere gegen sein zerfetztes Gesicht. »Ich mag Sie, George. Bitte lassen Sie zu, dass ich Sie rette. Ich will Sie nicht umbringen müssen, nicht nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben. Sie werden mir danken, sobald Sie sehen, was Sie und Ihre Familie erwartet. Sie werden im Jenseits wieder vereint sein. Ihr alle seid Propheten, und ich werde euch ins Gelobte Land führen!«
»Ich scheiß auf Sie«, sagte George, und es war ihm egal, ob Denning ihn erschoss oder nicht. »Und auf Ihren Gott scheiße ich auch.«
14.42 Uhr
Leicester Square
»Nick, glauben Sie, wir kriegen Conor und den Professor hinunter in die Schalterhalle?«
»Ich weiß es nicht, Ed.«
»Kommen Sie, wir sind Polizisten! Die müssen uns durchlassen.«
»Der Inhalt des Kartons macht mir mehr Sorgen.«
»Glauben Sie, es sind Spürhunde unterwegs?«
»Davon ist auszugehen. Wenn sie riechen, was wir in dem Karton haben, schlagen sie sofort an.«
»Dann müssen wir uns eben von ihnen fernhalten.«
Die vier Männer gingen auf den U-Bahn-Eingang westlich der Charing Cross Road zu. Ed stellte sich lieber nicht vor, wie sie in den Augen der unzähligen Polizisten und Sondereinsatzkräfte aussahen, die in den leeren Straßen rund um den U-Bahnhof patrouillierten: ein Blinder, der sich bei einem großen kahl geschorenen Mann eingehakt hatte, und dahinter ein
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