9 Stunden Angst
klar«, sagte George in das Funkgerät. Nachdem er die Station Oval passiert hatte und den winzigen Lichtkegel von Kennington am Ende des Tunnels auftauchen sah, spürte er die Panik in sich immer größer werden. Wie sollte er dem Auszubildenden die Anwesenheit einer weiteren Person in der Fahrerkabine erklären?
Schon von weitem sah George den Azubi in seiner Uniform am Ende des Bahnsteigs stehen. Er war etwa dreißig, mittelgroß, leicht übergewichtig und trug einen Pferdeschwanz. Als der vorderste Waggon an ihm vorbeikam, winkte er George zu, der den Gruß erwiderte. Nachdem George beim Haltesignal zum Stehen gekommen war, öffnete er die Tür auf der Fahrerseite, woraufhin der Fahrschüler ins Führerhaus kletterte.
»Kann losgehen«, sagte er und schien sich nicht an der dritten Person in der Kabine zu stören.
»Alles klar«, entgegnete George und schloss die Tür.
Der Azubi nickte Pilgrim zu, der das Nicken mit ausdrucksloser Miene erwiderte. Das Signal sprang um, und sie fuhren zu dritt nebeneinander in den Tunnel, George auf dem Fahrersitz und die anderen beiden stehend.
Es klang wie ein Billardqueue, das gegen ein Kissen gestoßen wurde. George wandte den Kopf und sah, wie die Beine des Auszubildenden zusammenklappten und er zur Seite kippte. Ein Blutstrahl schoss aus einem Loch an der Seite seines Kopfes. Während die Füße des Azubis im Todeskampf zuckten, blickte Pilgrim teilnahmslos auf ihn hinunter, in der Hand eine rauchende Automatikpistole mit Schalldämpfer.
»O Gott!«, keuchte George atemlos. Er war wie betäubt vor Schock.
»Lass die Hand am Hebel, George.« Aus Pilgrims Stimme war zum ersten Mal eine gewisse Dringlichkeit herauszuhören, bevor er wieder in sein selbstsicheres Säuseln zurückfiel. »Schön ruhig und gleichmäßig, so ist es gut.«
Die Beine des Azubis zuckten noch ein paar Mal, während aus seiner Kopfwunde weiter Blut auf den Boden der Fahrerkabine spritzte. Der Bogen der Fontäne wurde mit dem schwächer werdenden Puls immer kleiner.
George warf einen Blick nach unten. In den Bodenrinnen unter dem Kopf des armen Kerls schwappte das Blut hin und her. Er wandte den Blick ab. Das war schon seine zweite Leiche innerhalb der letzten zwei Monate. Erst die der Selbstmörderin und jetzt diese. Unterschiedlicher hätten die beiden Erlebnisse nicht sein können. Den Selbstmord hatte er zwar nicht direkt vorhersehen können, aber er war zumindest mental darauf vorbereitet gewesen. Ganz im Gegensatz zu diesem eiskalten Mord.
Georges Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie aus Gummi, und er musste seine ganze Kraft aufwenden, um den Gashebel nicht loszulassen. Blicklos starrte er geradeaus in den Tunnel, während bunte, kaleidoskopische Muster am Rand seines Sichtfelds tanzten. Sein Kopf schien zu groß für seinen Hals zu sein, der sich schilfartig und wackelig anfühlte. Als der Zug ein grünes Signal passierte, verkündete CELIA : »Nächster Halt: Waterloo.« Die Ansage hallte in Georges Kopf wider, der anfing, nach vorne zu sinken. Vielleicht hatte er ja ebenfalls einen Schuss abbekommen, und dies waren seine letzten Minuten. Irgendjemand hielt seine Hand.
Pilgrim stand neben ihm und hatte seine Hand über Georges Hand gelegt, um den Druck auf den Gashebel aufrechtzuerhalten. Mit der anderen Hand schlug er ihm immer wieder auf die Wange.
»Mir … geht’s gut«, stammelte George, als sich der Nebel allmählich lichtete. Sein Gesicht brannte.
»Fallen Sie mir ja nicht in Ohnmacht, George.«
»Tut mir leid.« Hatte er sich gerade wirklich bei diesem Dreckskerl entschuldigt?
Der Zug fuhr in den U-Bahnhof Waterloo ein, dessen Bahnsteig gut gefüllt war. George hielt am Stoppsignal und öffnete die Tür der Fahrerkabine, um einen Blick nach hinten auf die Türen der Waggons zu werfen. Die Luft, die er einsog, war warm und metallisch und enthielt nur wenig Sauerstoff. Während er an der Tür stand und den Leuten beim Ein- und Aussteigen zusah, kam ihm der Gedanke, aus dem Führerhaus zu springen und wegzurennen. Aber er verwarf die Idee sofort wieder. Seine Beine waren viel zu zittrig, und er hätte es ohnehin nicht weit geschafft.
»Waterloo Station. Umsteigemöglichkeit zur Jubilee Line, zur Bakerloo Line und zu den Fernzügen.«
Der Bahnsteig war voll mit Pendlern, Tagesausflüglern, Rucksackreisenden, Geschäftsleuten, Schülern und Studenten, Rentnern, Frauen mit Babys oder Kleinkindern und Touristen, die Koffer auf Gepäckwagen vor sich herschoben.
»Bitte
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