9 Stunden Angst
auf der Seele brennen, bevor wir unseren gemeinsamen Weg fortsetzen. Also los, das können Sie doch besser!«
»Na gut. Woher wissen Sie, wer ich bin, wo ich wohne, mit wem ich wohne, um wie viel Uhr ich zur Arbeit aufbreche, welches Auto ich fahre – woher wissen Sie so viel über mich?«
Georges innere Unruhe fühlte sich inzwischen an wie ein pochender, quälender Abszess. Und die Antwort des jungen Mannes brachte ihn zum Aufplatzen. Es war kein angenehmes Gefühl.
»Wir haben uns für Sie entschieden, George, weil Sie als Erster reagiert haben. Sie haben mir von sich aus alles erzählt, was ich wissen musste.«
Für einen frustrierten Träumer wie George war das Internet ein ideales Ventil, das es ihm erlaubte, sich mit Menschen auf der ganzen Welt auszutauschen. Er genoss die Unmittelbarkeit und Anonymität von Chatrooms, aber ihm gefiel auch das Gemeinschaftsgefühl, das Internetforen boten. Vor allem eine Website, die vor rund zehn Jahren von einem gewissen »Piccadilly Pete« gegründet worden war, hatte es ihm angetan. Sie hatte sich schnell zum wichtigsten Online-Kommunikationsforum für Mitarbeiter der Londoner U-Bahn und U-Bahn-Fans aus ganz England entwickelt. Die Threads, die sich nur mit Technik beschäftigten, interessierten George nicht, doch es fanden auch oft Diskussionen über tägliche Arbeitsabläufe oder Arbeitsbedingungen statt, in die er sich bisweilen einschaltete. Manchmal erbaten Schriftsteller oder Journalisten Informationen, die sie für ihre Recherchen brauchten, oder es meldeten sich Arbeitssuchende, die Fragen zu den verschiedenen Aufgabenbereichen hatten oder wissen wollten, wie man sich am besten bewarb.
In ebendiesem Internetforum hatte George ein Community-Mitglied kennengelernt, das sich »Pilgrim« nannte. Im Glauben, einen jungen Mann vor sich zu haben, dessen größter Traum es war, U-Bahn-Fahrer zu werden, hatte er einen regen E-Mail-Austausch mit ihm begonnen. Angefangen hatte alles mit Pilgrims Frage an das gesamte Forum, wie man sich am besten für einen Job als Zugführer bewarb. George hatte als Erster geantwortet und ihm seine eigenen Erfahrungen anvertraut, woraufhin sich zwischen ihnen schnell eine lockere Internetfreundschaft entwickelt hatte. George hatte sich geschmeichelt gefühlt von dem Interesse und der Ehrerbietung, die Pilgrim ihm entgegenbrachte, und sich ihm gegenüber offenherziger gezeigt, als die Vorsicht gebot. Aber George war eben im Herzen ein großes Kind geblieben. Was soll schon passieren?, hatte er sich gefragt. Selbst als Pilgrims Fragen immer persönlicher geworden waren, hatte er ihm bereitwillig geantwortet. Nun ging ihm auf, dass er gezielt ausspioniert worden war.
» Sie sind Pilgrim, oder?«
Wieder erntete er ein Lächeln. »Ich hatte eigentlich gedacht, dass Sie früher darauf kommen.«
In George stieg die Galle hoch. Er fühlte sich zutiefst betrogen.
Pilgrims Lächeln erlosch. »Wir können uns später weiter unterhalten. Jetzt möchte ich, dass Sie sich auf Ihre Arbeit konzentrieren und dabei schön den Mund halten. Einverstanden?«
George hörte die unterschwellige Drohung heraus und nickte zitternd, bevor er den Blick wieder in die Dunkelheit des Tunnels richtete.
Sie passierten eine Station nach der anderen, angekündigt von CELIA s monotoner Stimme. In Stockwell verließ etwa ein Drittel der Fahrgäste den Zug, um in die Victoria Line umzusteigen, aber es gab auch neue Passagiere, die George Wakehams U-Bahn mit der Zugnummer 037 betraten, die sich setzten oder stehen blieben und sich an den gelben Handläufen festhielten, die in ihren Zeitungen, Büchern oder Tablet-Computern lasen, Musik hörten, Spiele spielten, ihren Kater von der letzten Nacht auskurierten, an ihrem Kaffee nippten, attraktive Fahrgäste mit verstohlenen Blicken musterten oder einfach nur ins Leere starrten.
»Mitteilung an Zug null drei sieben«, erklang die Stimme des Liniendisponenten aus dem Funkgerät, als George gerade darauf wartete, dass das Signal umsprang. »Wir haben einen Auszubildenden in Kennington, der Ihnen bis East Finchley ein wenig über die Schulter sehen will. Geht das in Ordnung?«
Fahrschüler, die im Führerstand mitfuhren, beziehungsweise »sich kutschieren ließen«, wie es im U-Bahn-Slang genannt wurde, waren keine Seltenheit. George konnte die Anfrage daher auf keinen Fall ausschlagen, ohne Verdacht zu erregen. Pilgrim schien das zu wissen, denn er nickte zustimmend, als George ihm einen nervösen Blick zuwarf.
»Geht
Weitere Kostenlose Bücher