9 Stunden Angst
getrotzt, und Varick hatte sich sofort darangemacht, den maroden Teil des Daches wieder instand zu setzen und die Rohrleitungen zu reparieren. Nach und nach hatten er und seine Brüder Madoc Farm wieder aufgebaut, und am Ende hatte sich Varick sogar ein wenig Stolz auf das Erreichte gestattet.
Madoc Farm in Snowdonia war jetzt sein wahres Zuhause. Dort konnte er der Arbeit nachgehen, mit der Jesus ihn beauftragt hatte: der Rettung von jungen Männern und Frauen, die vom Weg abgekommen waren und wieder auf den Pfad der Rechtschaffenheit geführt werden mussten. Einige Mitglieder von Cruor Christi hatten einen militärischen Hintergrund – dazu zählten Thomas und Simeon –, andere waren ehemalige Drogenabhängige wie Alistair und er selbst. Die Welt war voller Opfer von Drogen und Kriegen. Cruor Christi war ein Zufluchtsort für diese Opfer, und so sollte es auch in Zukunft bleiben. Er, Varick, würde dafür sorgen, dass diese armen spirituellen Flüchtlinge nicht allein gelassen wurden. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass Bruder Thomas das besondere Band zerstörte, das die Brüder und Schwestern von Madoc Farm miteinander verband. Die Verantwortung lag nun bei ihm, bei ihm ganz allein. Wenn die Behörden sahen, dass es der Glaubensgemeinschaft selbst gelungen war, die von einem ihrer Mitglieder geplante Katastrophe abzuwenden, würden sie Cruor Christi auch in Zukunft in Ruhe lassen. Pater Owens Tod würde nicht umsonst gewesen sein, denn Varick würde seine wertvolle Arbeit weiterführen.
Er hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei Tommy gehabt. Dieses hitzköpfige, beinahe psychopathische Charisma war ihm während seiner Arbeit beim NOPD immer wieder begegnet. Der Polizeidienst zog solche Charaktere förmlich an. Aber Tommy war anders als Varicks ehemalige Kollegen. Es war, als würde er sich seelenruhig zurücklehnen und abwarten, bis seine Zeit gekommen war. Nur bei einem Thema, der Selbstopferung, ging regelmäßig sein Temperament mit ihm durch.
Tommy war fasziniert vom radikalen Islam und dem Dschihad. Für ihn war es reine Propaganda der westlichen Medien, dass islamistische Attentäter glaubten, im Himmel von Jungfrauen empfangen zu werden. Mit diesem Gerücht sollten der unerschütterliche Glaube und die Willensstärke der Gotteskrieger in Zweifel gezogen werden. Tommy hingegen war überzeugt, dass diese Männer genau wussten, was sie taten, und man ihren Weitblick nur bewundern konnte. Sie waren bereit, für ihren Glauben zu sterben. So viel Opferungsbereitschaft gab es im Christentum nicht. Jesus Christus hatte Opferbereitschaft bewiesen, doch seine Anhänger hatten ihn im Stich gelassen. Die Christen hatten es noch nie geschafft, dem Beispiel ihres Erlösers zu folgen. Sie brauchten jemanden, der ihnen den Weg wies und ein Zeichen setzte. Jemanden, der Schulter an Schulter mit den muslimischen Brüdern kämpfte.
Tommy hatte so oft von der Moral und der Hingabe von Selbstmordattentätern geschwärmt, dass Varick irgendwann beschlossen hatte, mit ihm über dieses Thema zu diskutieren. Aber der Exsoldat hatte sich ihm nur widerwillig geöffnet, und als dann andere, dringendere Angelegenheiten aufgetaucht waren, hatte Varick seine Bedenken fürs Erste verdrängt. Bis Owen Tommys Notizbuch entdeckt hatte. Der Inhalt war scheinbar zusammenhanglos, bestand aus weitschweifenden Notizen, Ideen und Bibelzitaten, die wahllos aneinandergereiht waren. Neben Tommys Plan, die Familie des Zugführers und die Insassen des Zuges zu kidnappen, fand immer wieder ein Fluss Erwähnung, der bei seinem perfiden Vorhaben eine große Rolle zu spielen schien. Varick erinnerte sich besonders an ein Bibelzitat, Offenbarung Kapitel 22, Vers 1: »Und er zeigte mir einen lautern Strom des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall; der ging aus von dem Stuhl Gottes und des Lammes.« Dieses Zitat hatte Tommy gleich mehrmals in sein Notizbuch geschrieben, so als sei die Erwähnung des »lauteren Stroms« in der Heiligen Schrift eine Art göttliche Bestätigung dafür, dass er auf dem richtigen Weg war.
Die nächste U-Bahn fuhr in die Station ein. Varick fixierte sie über seine Zeitung hinweg und befürchtete schon, dass wieder nur ein Fahrer im Führerhaus saß. Doch diesmal hatte er Glück. Der Fahrer war ein großer Mann mit besorgtem Gesichtsausdruck. Neben ihm stand ein jüngerer Mann, der drahtig und muskulös war und sich vorbeugte, um auf den Bahnsteig zu spähen. Noch bevor die
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