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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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treten Sie aus den Türen, der Zug fährt ab.«
    Das Signal sprang um, und während George seinen Zug in den Tunnel steuerte, der unterhalb der Themse zum U-Bahnhof Embankment führte, riskierte er einen flüchtigen Blick auf den Mann, den er nur als Pilgrim kannte. Unbeweglich und kerzengerade stand er neben ihm – von der Pistole war nichts mehr zu sehen – und starrte gedankenversunken durch die Frontscheibe des Zuges, während der Mann, den er gerade getötet hatte, zu seinen Füßen lag.
    08.46 Uhr
    U-Bahnhof Leicester Square, Bahnsteig der Northern Line, nördliche Fahrtrichtung
    Varick vermutete, dass er von Überwachungskameras gefilmt wurde und irgendwo in einem kleinen Büroraum auf einem Bildschirm zu sehen war. Wenn Tommy Denning nicht bald auftauchte, würde seine Festnahme nicht mehr lange auf sich warten lassen. Zu seiner allgemeinen Anspannung gesellte sich eine immer größere Ungeduld. Aber die Warterei verschaffte ihm auch Zeit zum Nachdenken, und wenn er seine Gedanken nicht gerade auf Tommys Auftauchen fokussierte, schweiften sie zu dem langen, beschwerlichen Weg ab, der ihn von New Orleans in die Berge von Snowdonia geführt hatte. Dieser Weg war eine Probe von Gott gewesen, ein Test, den er schließlich bestanden hatte. Nachdem Katrina im September 2005 die Dämme zerstört hatte, waren in New Orleans gesetzlose Zeiten angebrochen. Die Welt hatte kopfgestanden. In seiner Funktion als Polizist hatte Varick damals Dinge getan, die sein Gewissen schwer belasteten – zum Beispiel auf Plünderer zu schießen. Er hatte versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen: Das gesellschaftliche Gefüge habe nicht mehr funktioniert, was sei ihm und seinen Kollegen vom New Orleans Police Department – sofern sie nicht längst desertiert waren – denn anderes übriggeblieben? Doch egal, wie viele Ausreden er sich zurechtgelegt hatte, seine Taten hatten ihm keine Ruhe gelassen. Nach Katrina war sein Drogenkonsum in die Höhe geschossen, ein verzweifelter Versuch, die Erinnerung an die schrecklichen Dinge auszulöschen, die er getan und gesehen hatte.
    Dann hatte ihn sein erster Urlaub nach Katrina genau hierher geführt, wo er jetzt auf dem Bahnsteig stand: nach Westlondon. Er war mit einer Freundin unterwegs gewesen, Frieda hatte sie geheißen. Frieda war Halbdeutsche und liebte es, nächtelang zu feiern. Eigentlich war eine Woche Sightseeing geplant gewesen, doch stattdessen hatten sie das Innere ihres Hotelzimmers besichtigt, wo sie fast ununterbrochen gevögelt hatten, sowie das Innere mehrerer Nachtklub-Toiletten, wo sie bergeweise Kokain aus der Tüte geschnupft hatten, die er in seinem Hintern durch den Zoll geschmuggelt hatte.
    Im Nachhinein war Varick klar, dass ihm damals der Teufel aufgelauert hatte, bereit, ihn in sein Reich zu entführen. Zum Glück hatte nur wenige Monate, nachdem er mit Frieda von seiner London-Reise zurückgekehrt war, Jesus zu ihm gesprochen und ihm den einzig wahren Weg gewiesen. Eine andere Erklärung gab es nicht dafür, dass er sich eines Tages auf der Website einer britischen evangelischen Glaubensgemeinschaft namens Cruor Christi wiedergefunden hatte. Obwohl er christlich getauft war, hatte er seit seiner Jugend keine Kirche mehr von innen gesehen, es sei denn zu Beerdigungen oder Hochzeiten. Und dennoch saß er eines Nachts an seinem Computer, den Kopf vollgepumpt mit Koks, und surfte im Internet, auf der verzweifelten Suche nach einem Sinn. Die einfachen, tröstenden Worte von Pater Owen hatten sofort eine Saite in seinem Herzen zum Klingen gebracht. Owen schien ein guter Samariter zu sein, ein Mann, der jenen helfen wollte, die im Leben nicht so viel Glück gehabt hatten. Varick spürte, wie sich unter der zersetzenden Kraft seiner Verkommenheit wieder der Altruismus regte, der einst den Wunsch in ihm geweckt hatte, seinen Mitmenschen durch die Arbeit als Polizist zu dienen, die Selbstlosigkeit, die seit langer Zeit in ihm schlummerte und nun erneut zum Vorschein kam.
    Auf seine anfänglichen E-Mails an Pater Owen folgten Telefonate, und schon nach wenigen Monaten kehrte Varick Drogen und Alkohol den Rücken, kündigte seine Stelle beim NOPD und machte sich auf nach Wales, zur Madoc Farm in Snowdonia. Sein Weg dorthin war genauso gottgewollt gewesen wie seine jetzige Mission. Es war seine Bestimmung, Bruder Thomas aufzuspüren und ihm das Handwerk zu legen.
    Die ersten Monate in Snowdonia waren hart gewesen. Das halb zerfallene Gutshaus hatte dem Winter nur ungenügend

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