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900 Großmütter Band 1

900 Großmütter Band 1

Titel: 900 Großmütter Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. A. Hrsg Lafferty
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weiß nicht mal, was jetzt für ein Tag ist, aber ich muß mindestens zwanzig Stunden glatt durchgearbeitet haben, und kein Mensch ist erschienen. Wenn sie sich ebenso langsam bewegen, wie die Menschen in dem Alptraum da draußen, ist es kein Wunder, daß noch niemand da ist.«
    Er kreuzte die Arme auf der Tischplatte und legte den Kopf darauf. Das Letzte, was er sah, war sein von Geburt an mißgestalteter linker Daumen, den er immer durch gewisse Handbewegungen ein bißchen zu verstecken wußte.
    »Wenigstens weiß ich, daß ich ich selbst bin. An diesem Daumen würde ich mich überall wiedererkennen.« Mit diesem Gedanken schlief er am Tisch ein.
    Jenny erschien mit dem raschen Klick-Klack ihrer hohen Absätze, und er wachte von dem Geräusch auf.
    »Was machen Sie denn hier? Sind Sie an Ihrem Schreibtisch eingeduselt, Mr. Vincent? Waren Sie die ganze Nacht hier?«
    »Ich weiß es nicht. Ehrlich, Jenny, ich weiß es nicht.«
    »Ich habe ja nur Spaß gemacht. Manchmal, wenn ich zu früh komme, mache ich selbst so ein kleines Büroschläfchen.«
    Nach der Uhr war es sechs Minuten vor acht, und der Sekundenzeiger bewegte sich mit normaler Geschwindigkeit. Die Zeit war in die Welt zurückgekehrt. Oder zu ihm. Aber war dieser ganze frühe Morgen, den er erlebt hatte, nur ein Traum gewesen? Dann war es ein sehr tüchtiger Traum gewesen, denn er hatte eine Arbeit geleistet, für die er normalerweise zwei Tage gebraucht hätte. Und es war immer noch der richtige Tag.
    Er ging zur Wasserleitung. Das Wasser benahm sich jetzt wieder normal. Er ging zum Fenster – der Verkehr benahm sich so wie er sollte, zwar manchmal langsamer und manchmal schneller dahinfließend, aber im ganzen bot der Verkehrsablauf das gewohnte Bild.
    Nach und nach erschienen die anderen Mitarbeiter. Sie schossen zwar nicht dahin wie die Kugelblitze, aber man mußte sie auch nicht minutenlang beobachten, um sich zu vergewissern, daß sie nicht tot seien.
    »Es hat schon seine Vorteile«, sagte sich Vincent, »ich hätte zwar Angst, ständig in diesem Zustand zu leben, aber es müßte ganz praktisch sein, sich jeden Tag für ein paar Minuten hineinzuversetzen und dabei die Arbeit von Stunden zu schaffen. Vielleicht bin ich ein Fall für den Arzt. Aber wie soll ich dem Doktor klarmachen, was mit mir los war?«
    Von seinem Aufstehen am Morgen bis zu seinem zweiten Erwachen, als er Jenny hereinkommen hörte, waren knapp zwei Stunden vergangen. Und wie lange dieser zweite Schlaf gedauert hatte, und in welcher Zeit-Enklave er vor sich gegangen war – davon hatte er keine Idee. Aber wie war das alles zu erklären? Er war wegen dieser Konfusion lange in seiner Wohnung geblieben, länger als gewöhnlich. In seiner Verwirrung war er meilenweit durch die Stadt gelaufen. Und er hatte stundenlang in dem kleinen Park gesessen und die merkwürdige Situation bedacht. Und er hatte ganz ungemein lange an seinem Schreibtisch gehockt und gearbeitet.
    Na schön, er würde also zum Arzt gehen. Ein Mann muß vermeiden, sich vor der ganzen Welt lächerlich zu machen; aber vor seinem Anwalt, seinem Priester und seinem Arzt kann er schon mal als Narr erscheinen. Denen ist es von Berufs wegen verboten, einen Menschen offen zu verspotten.
    Er ging am Nachmittag zum Arzt. Dr. Mason war nicht eigen dich sein Freund. Vincent stellte bei dieser Gelegenheit mit einigem Unbehagen fest, daß er überhaupt keine wirklichen Freunde hatte, nur Bekannte und Geschäftskollegen. Es war, als sei er von einer etwas anderen Art als alle seine Mitmenschen. Heute wünschte er sich ein bißchen, einen wirklichen Freund zu haben.
    Immerhin kannte er Dr. Mason seit einigen Jahren; er besaß einen guten Ruf als Arzt, und außerdem war Vincent inzwischen in der Praxis angelangt und wurde auch gleich vorgelassen. Entweder mußte er – nun, das war ein ebensoguter Anfang wie irgendein anderer.
    »Doktor, ich bin in einer Bredouille. Entweder muß ich mir ein paar Symptome ausdenken, um zu begründen, warum ich eigentlich bei Ihnen bin; oder ich muß mich entschuldigen und ausrücken; oder ich muß Ihnen tatsächlich erzählen, was mit mir nicht in Ordnung ist – und dann denken Sie möglicherweise, ich sei eine neue Art Irrer.«
    »Vincent, zu mir kommen jeden Tag Leute, die Symptome erfinden, um mir nicht sagen zu müssen, warum sie eigentlich hier sind; und ich weiß genau, daß sie sich nicht trauen, mir die tatsächlichen Gründe ihres Kommens zu erzählen. Und jeden Tag erfindet einer eine

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