900 Großmütter Band 1
Weile. Vincent sah auf die Wanduhr und wollte gehen.
»Ich wüßte gern«, sagte der Mann im Dunkeln, »ob Sie das Buch von Schimmelpenninck über das Sechser- und Zwölfersystem in den chaldäischen Mysterien gelesen haben.«
»Das habe ich nicht, und ich bezweifle, daß es irgendjemand anders gelesen hat. Ich vermute, Sie sind außer Zubarin auch noch Schimmelpenninck und haben sich den Namen soeben spontan ausgedacht.«
»Ich bin Schim, das ist wahr, aber ich habe mir den Namen schon vor mehreren Jahren spontan ausgedacht.«
»Sie langweilen mich etwas«, sagte Vincent, »aber ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie Ihren Glasfüll-Trick nochmal vorführen würden.«
»Bitte – schon passiert. Und Sie haben keine Langeweile, Sie haben Angst.«
»Wovor?« fragte Vincent, dessen Glas sich in der Tat wieder gefüllt hatte.
»Daß Sie wieder in so einen Traum hineingeraten, von dem Sie wissen, daß es kein Traum ist. Aber es hat oft seine Vorteile, wenn man sowohl unsichtbar als auch unhörbar ist.«
»Können Sie sich unsichtbar machen?«
»War ich das nicht, als ich jetzt eben hinter die Bar ging und Ihnen einen Schnaps holte?«
»Wie das?«
»Ein Mensch legt in flottem Schritt etwa acht Kilometer pro Stunde zurück. Multiplizieren Sie das mit Sechzig, der Zeit-Konstante. Wenn ich vom Stuhl aufstehe und hinter die Bar gehe, dann gehe ich mit einer Geschwindigkeit von vierhundertachtzig Kilometer in der Stunde. Also bin ich für Sie unsichtbar, besonders wenn ich grade losgehe, während Sie mit den Augen blinzeln.«
»Etwas stimmt dabei nicht. Sie können in der Zeit dort rübergehen und wieder zurückkommen. Aber Sie könnten den Schnaps nicht eingegossen haben.«
»Soll ich Ihnen verraten, daß die Beherrschung von Flüssigkeiten und anderen Objekten dem Anfänger noch nicht zuteil wird? Aber für uns gibt es Mittel und Wege, die Trägheit der Materie zu überlisten.«
»Ich glaube, Sie sind ein Scherzbold. Kennen Sie Dr. Mason?«
»Ich weiß einiges über ihn, auch daß Sie bei ihm waren. Ich weiß von seinen vergeblichen Versuchen, ein gewisses Geheimnis zu ergründen. Aber ich habe nicht mit ihm über Sie gesprochen.«
»Ich glaube immer noch, Sie sind ein Schwindler. Können Sie mich wieder in diesen Traumzustand vom vorigen Monat versetzen?«
»Das war kein Traum. Aber ich könnte Sie wieder in diesen Zustand versetzen, ja.«
»Beweisen Sie es!«
»Passen Sie auf die Uhr auf. Glauben Sie, daß sie für Sie stehenbleibt, wenn ich mit dem Finger hindeute? Für mich steht sie bereits.«
»Nein, das glaube ich nicht. Ja, wahrscheinlich muß ich es doch glauben, denn Sie haben es ja eben getan. Aber das kann ja auch wieder so ein Trick sein. Ich weiß nicht, wo die Steckdose für die Uhr ist.«
»Ich auch nicht. Kommen Sie zur Tür. Schauen Sie auf alle Uhren, die Sie sehen können. Stehen sie nicht alle still?«
»Ja. Vielleicht ist der Strom in der ganzen Stadt ausgefallen.«
»Sie wissen ganz gut, daß das nicht der Fall ist. In diesen Häusern dort drüben sind noch ein paar erleuchtete Fenster, obwohl es schon ziemlich spät ist.«
»Warum spielen Sie mit mir? Ich bin bei dieser Geschichte nicht drinnen und nicht draußen. Entweder verraten Sie mir das Geheimnis, oder sagen Sie, daß Sie es nicht tun wollen.«
»Das Geheimnis ist keineswegs so einfach. Man kann nur dahinterkommen, wenn man alle Philosophie, alles Wissen der Welt in sich aufgenommen hat.«
»Ein einzelner Mansch kann das in einem Leben ja gar nicht erreichen.«
»Nicht in der gewöhnlichen Lebenszeit. Aber das Geheimnis des Geheimnisses, wenn ich es so ausdrücken darf, besteht darin, daß man einen Teil eben dieses Geheimnisses als Werkzeug zum Lernen benutzen muß. Sie können nicht alles in der Spanne eines Lebens lernen; aber wenn Sie den ersten Schritt haben tun dürfen, können Sie, sagen wir mal, sechzig Bücher in derselben Zeit lesen, die Sie sonst für eins gebraucht haben; Sie können eine Minute zum Nachdenken pausieren und brauchen dazu nur eine Sekunde; Sie können ein Tagespensum Arbeit in acht Minuten verrichten und so Zeit haben für andere Dinge – auf solche Weise kann man anfangen. Aber ich warne Sie. Selbst für den Intelligentesten ist es ein Wettrennen.«
»Ein Wettrennen? Wieso?«
»Es ist ein Rennen zwischen dem Erfolg, der das Leben bedeutet, und dem Mißerfolg, welcher der Tod ist.«
»Werden Sie doch bloß nicht so melodramatisch! Aber wie komme ich in diesen Zustand, und wie komme
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