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900 Großmütter Band 1

900 Großmütter Band 1

Titel: 900 Großmütter Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. A. Hrsg Lafferty
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auf sich auf? Haben Sie Sorgen?«
    »Aber nein«, sagte Vincent, »nie in meinem Leben war ich besser zuwege.«
    Dagegen hatte er jetzt für so viele Dinge Zeit, tatsächlich für alles. Es war kein Grund vorhanden, daß er sich nicht alles erdenkliche Wissen aneignen könnte, wenn er fünfzehn Minuten umschalten und damit fünfzehn Stunden gewinnen konnte. Vincent war von Natur ein schneller, aber sorgfältiger Leser. Jetzt konnte er zwischen Morgen und Abend hundertzwanzig bis hundertfünfzig Bücher lesen; und er schlief im akzelerierten Zustand, so daß er in acht Minuten einen vollen Nachtschlaf hatte.
    Zunächst erwarb er sich Sprachkenntnisse. Eine ziemlich umfangreiche Beherrschung des Lesens einer fremden Sprache kann man sich in circa dreihundert Stunden Weltzeit aneignen; das entspricht dreihundert Minuten (oder fünf Stunden) Akzelerationszeit. Und wenn man sich die Sprachen der Reihe nach vornimmt, vom Bekannten zum Entferntesten schreitet, so bestehen keine wirklichen Schwierigkeiten. Er lernte für den Anfang erst einmal fünfzig Sprachen und konnte an einem beliebigen Abend immer noch die eine oder andere hinzunehmen, wenn ein Bedarfsfall eintrat.
    Und zugleich begann er, Wissen zu sammeln und zu festigen. In der Literatur gibt es genaugenommen höchstens zehntausend Bücher, die wirklich lesens- und liebenswert sind. Diese las er mit hohem Vergnügen; zwei- oder dreitausend davon waren wichtig genug, um sie für späteres nochmaliges Lesen vorzumerken.
    Geschichte dagegen ist ein sehr unausgeglichenes Gebiet. Man muß Texte und Quellen lesen, die der Form nach keineswegs lesenswert sind. Das gleiche gilt für die Philosophie. Mathematik (reine, wie angewandte) war natürlich nicht in diesem Tempo zu bewältigen. Doch bei der Fülle der Zeit war schließlich alles möglich. Es gibt keine von einem menschlichen Verstand formulierte Konzeption, die nicht von jedem anderen normalen menschlichen Verstand begriffen werden könnte, wenn genügend Zeit vorhanden ist und die Sache in der richtigen Ordnung, im richtigen Zusammenhang und nach richtiger Vorbereitung in Angriff genommen wird.
    Und immer häufiger fühlte Vincent, wie sein Finger an das Geheimnis rührte. Und jedesmal, wenn er dem nahekam, spürte er ein ganz klein wenig von dem Geruch des Pfuhls. Denn er hatte alle Kardinalpunkte der Menschheitsgeschichte abgesteckt, oder besser: die meisten der vertretbaren oder wenigstens möglichen Theorien der Menschheitsgeschichte. Es war schwierig, die große Linie festzuhalten – diesen zweifachen Weg der Vernunft und der Offenbarung, der stets zu einer Entwicklung führen sollte, zur Entfaltung, zu immer reicherer Fülle, zu Wachstum und Vollkommenheit. Manchmal hatte er das Gefühl, die Grenze der Geschichte einer anderen Spezies als der des Menschen zu überschreiten.
    Denn die große Linie der Darstellungen war oft genug obskur, manchmal fast ausgelöscht; ihre Spur führte durch Nebel und Miasmen. Vincent hatte Fall und Erlösung des Menschen als die absoluten Endpunkte angenommen. Aber nun begann er zu ahnen, daß das eine wie das andere keine einmaligen, sondern ständig wiederkehrende Ereignisse waren; daß sich aus jenem uralten Pfuhl eine Hand hochreckte und ihren Schatten auf den Menschen warf. Er war dahin gelangt, daß er in seinen Träumen – und er träumte in diesem Zustand ungemein lebhaft – diese Hand als ein sechsfingerig zupackendes Ungeheuer bildhaft vor Augen hatte. Ihm wurde jetzt klar, daß er in einer gefährlichen, tödlichen Sache steckte.
    Sehr gefährlich.
    Sehr tödlich.
    Eines dieser dunklen Bücher, die er immer wieder las und das ihn beständig aufs neue verwirrte, war ›Extradigitalismus und Genie ‹, das Buch, das der Mann, dessen Gesicht er nie erblickt hatte, geschrieben haben wollte.
    Es versprach mehr, als es gab, und deutete mehr an, als es sagte. Seine Theorie war langweilig und dürftig, mit unverdauten Anhäufungen zweifelhafter Daten aufgepolstert. Es konnte Vincent nicht davon überzeugen, daß geniale Menschen – vorausgesetzt, daß man sich darüber einigen konnte, wer ein Genie ist oder was Genie überhaupt ist – häufig überzählige Finger oder Zehen besitzen, oder wenigstens Rudimente davon. Und er konnte nicht begreifen, was diese Mißbildung für einen Unterschied bewirken sollte.
    Doch da gab es Andeutungen über einen gewissen Corsen, der immer eine Hand verbarg; über einen noch früheren und bizarreren Heerführer, der ständig einen

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