900 Großmütter Band 1
Beschleunigung waren, der sich zu dem seinen verhielt wie dieser zum Normalzustand. Für sie war er fast bewegungslos, kaum von einem Toten zu unterscheiden. Für ihn waren sie durch ihre Geschwindigkeit unsichtbar und unhörbar. Sie schlugen und jagten ihn. Aber er wollte immer noch nicht ihrer Aufforderung folgen. Als er mit ihnen zusammentraf, waren sie es, die zu ihm kamen, und sie materialisierten sich in seinem Zimmer – lauter Männer ohne Gesicht.
»Die Entscheidung!« sagte einer. »Du zwingst uns, so plump vorzugehen, denn du mußt sie aussprechen.«
»Ich will kein Teil an euch haben«, sagte Vincent. »Ihr riecht alle nach dem Pfuhl, nach dem uralten Schlamm der Keilschrifttafeln aus dem Lande zwischen den zwei Flüssen, den Tafeln der Menschen, die vor dem gewöhnlichen Volk da waren.«
»Es hat lange bestanden«, sagte einer, »und wir betrachten es als ewig. Aber der Garten, der dicht daneben lag – weißt du, wie lange dieser Garten bestand?«
»Ich weiß es nicht.«
»Noch nicht einmal einen Tag. Das alles geschah an einem einzigen Tage, und noch vor Einbruch der Nacht waren sie draußen. Du willst dich doch mit etwas Beständigerem verbinden, nicht wahr?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Was hast du zu verlieren?«
»Nur meine Hoffnung auf die Ewigkeit.«
»Aber daran glaubst du ja gar nicht. Kein Mensch hat jemals wirklich an die Ewigkeit geglaubt.«
»Kein Mensch hat jemals die Ewigkeit vollständig geglaubt oder vollständig geleugnet«, sagte Vincent.
»Zum mindesten kann sie niemals bewiesen werden«, sagte einer der Gesichtslosen. »Nichts ist zu beweisen, ehe es abgeschlossen ist. Und in diesem Falle ist sie, wenn sie jemals vorbei ist, schon als nichtexistent bewiesen. Und wäre man in dieser ganzen Zeit nicht immer wieder versucht, zweifelnd zu fragen: Was ist, wenn in der nächsten Minute alles vorbei ist?«
»Ich stelle mir vor, daß wir wenigstens eine gewisse Sicherheit empfangen, wenn wir das Fleisch überleben.«
»Aber du kannst weder des Überlebens, noch des Empfangens gewiß sein, noch kannst du Sicherheit als sicher akzeptieren. Wir hingegen besitzen eine sehr enge Annäherung an die Ewigkeit. Wenn sich die Zeit mit sich selbst multipliziert und das immer wieder und wieder tut – kommt das nicht der Ewigkeit sehr nahe?«
»Ich glaube nicht. Und ich will nicht zu euch gehören. Einer von euch hat gesagt, ich sei zu wählerisch. So werdet ihr mir nun sagen, daß ihr mich vernichten werdet?«
»Nein. Wir werden nur zulassen, daß du vernichtet wirst. Für dich allein kannst du das Rennen gegen die Vernichtung nicht gewinnen.«
Nach diesem Erlebnis fühlte sich Charles Vincent irgendwie reifer. Er wußte, daß er in Wahrheit nicht dazu bestimmt war, ein Poltergeist oder ein sechsfingeriges Ding aus dem Pfuhl zu werden. Er wußte, daß er für jede gewonnene Stunde und Minute so oder so würde bezahlen müssen. Aber was er gewonnen hatte, das wollte er voll ausnutzen. Und was sich durch reinen Erwerb menschlichen Wissens erreichen ließ, das wollte er versuchen zu erreichen.
Und jetzt verblüffte er Dr. Mason durch die medizinischen Kenntnisse, die er sich angeeignet hatte, und es amüsierte ihn, daß sich der Doktor soviel Mühe mit ihm gab, denn er fühlte sich ausgezeichnet. Vielleicht war er nicht mehr so aktiv wie früher – aber nur, weil er den Wert zielloser Aktivität zu bezweifeln begonnen hatte. Er war immer noch das Gespenst der Bibliotheken und Museen; aber er wunderte sich, daß es neuerdings in den Zeitungsberichten hieß, jetzt gehe ein wesentlich älteres Gespenst um. Nun wurden auch seine mystischen Besuche bei Jennifer Parkey seltener, denn es deprimierte ihn jedesmal, wenn er sie in seinem geisterhaften Zustande klagen hörte: »Deine Berührung ist so anders geworden, du armes Wesen! Kann ich dir denn gar nicht helfen?«
Er mochte sie zwar immer noch gern, kam aber zu dem Schluß, daß sie irgendwie zu unreif sei, um ihn zu verstehen. Er übertrug seine Zuneigung auf Mrs. Milly Maltby, eine Witwe, die mindestens dreißig Jahre älter war als er und trotzdem etwas Mädchenhaftes an sich hatte, das ihn fesselte. Sie war eine Frau von scharfem Verstand, und dabei gefühlvoll, und sie nahm seine geisterhaften Heimsuchungen nach einer anfänglichen kleinen Panik ohne Furcht auf. Sie spielten zusammen, und zwar Schreibspiele, denn ihre Kommunikationen geschahen auf schriftlichem Wege. Milly schrieb eine Zeile hin und hielt das Papier hoch in die
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