900 Großmütter Band 1
Vögel wie die Shasos.«
»Bei uns gibt es keine Vögel, die so groß sind wie jene, die da oben schweben, Chavo. Sind das Shasos?«
»Nein, Papa Garamask, die da oben gehören zu den nicht so edlen unter den Großvögeln, es sind Geier. Wenn wir ein bißchen höher und näher am Himmel sind, kommen wir zu den Kuppen, wo Shasos jagt. Ich werde jetzt hier hochsteigen – eine sehr gefährliche Stelle – und dir ein Seil hinablassen. Wir werden viele solcher Seile brauchen.«
Chavo, der Bold, konnte wirklich klettern! Er sog sich am Felsen hoch wie klebriges Öl in einem Lampendocht. Er kletterte mit der vollen Ausrüstung und schien sich in diesem schlüpfrigen Steinmoos seiner Tritte und Griffe völlig sicher zu sein.
Aus einer Höhe von vierzig Metern ließ er ein Seil herab, und Garamask kletterte daran hoch – es war schon sehr anstrengend.
»Was hielt dich davon ab, mich mitsamt dem Seil fallen zu lassen?« fragte Garamask, als sie die nächste Andeutung einer Felskante erreicht hatten.
»Würde ein Oganta die Heiligkeit des Seils verletzen?« gab Chavo zurück.
Es wurde ein sehr langer und harter Tag. Garamask kletterte ein dutzendmal lange Seile hoch und bezwang furchterregende Überhänge – unter sich das Nichts. Schiefergraue Wolken hingen unter ihnen, und in der Tiefe war vom Stern Paravath nichts mehr zu sehen. Immer stärker wurde der Bewuchs von Gras und Kopfsteinmoos, so daß der Fels immer schlüpfriger und gefährlicher wurde. Die Nager-Ratten und Feuerhaken-Schlangen wurden größer; immer größere Vögel schwebten am Himmel und stießen auf ihre Beute herab. Eine furchterregende Hohe war das hier, betäubend, keinen Halt gewährend. Der Erste Mond, zerklüftet und mißgestaltet am Tageshimmel, schien näher zu sein als unten die Paravath, von der sie nur hier und da etwas sahen. Tatsächlich war die Umlaufbahn des kleinen Ersten Mondes nur achtmal weiter entfernt, als die Distanz zur Stadt Bergesfuß betrug.
»Da ist ein Shasos, und da, und da«, sagte Chavo, als sie auf einer kaum vorhandenen Kante rasteten – eigentlich war sie nur ein etwas anders gefärbtes Band im Felsen. »Aber es ist noch nicht der Shasos selbst. Doch der wird bald kommen.«
Garamask kletterte hinter Chavo über manche ziemlich schwierige Stellen; er wollte kein Seil. Doch dann drohte ein sehr langer und schwieriger Überhang – Garamask wußte sofort, daß er den nicht würde klettern können.
»Hier müssen wir wieder das Seil nehmen, Chavo«, sagte er, »und es ist mir sehr unangenehm, von dir abhängig zu sein. Kommst du da überhaupt hinauf?«
»Ich kann das klettern. Es ist die schwerste Stelle des ganzen Aufstiegs. Aber vorher werde ich dir was erzählen. Hier, an diesem Seil, das ich herunterlassen werde, wirst du deinen Kampf mit Shasos ausfechten müssen. Da oben ist er jetzt: der schwarze Punkt am Himmel dort – er schläft auf seinen ausgebreiteten Schwingen, bewegungslos. Aber er schläft mit einem offenen Auge und paßt auf. Er wird dir den Bauch aufreißen, um deine Därme und deine Milz zu fressen. Er wird dir die Augen aus dem Kopf fressen.«
»Das hat mir schon jemand anders erzählt, Chavo. Ja, ich erinnere mich an eine Sage, in der die Vögel einem gewissen Menschen immer wieder die Leber und die Milz ausfraßen.«
»Ich denke, daß die Welt-Vögel und Welt-Götter die Milz fressen, um die Zeit ihrer Wandlung zu überstehen, Papa Garamask. Aber wir hier brauchen andere Nahrung. Ich steige jetzt.«
Chavo, der unglaubliche Meisterkletterer der Oganta, nahm den längsten und gefährlichsten Aufstieg in Angriff; er folgte den Konturen der Klippe, wobei Garamask ihn an vier Stellen aus dem Auge verlor und dann wiederfand. Endlich schien er einen festen Halt erreicht zu haben. Bald kam das dünne, hundert Meter lange Seil herab, und Garamask begann den äußerst anstrengenden Aufstieg.
Auf halbem Wege waren seine Arme und seine Beine sehr müde und schmerzten; da hörte er ein Pfeifen vom Himmel. Es waren die Flügel des Großen Shasos, der sich mit mächtigem Schwünge auf ihn hinabstürzte. Garamask hatte grade eine Stelle erreicht, wo er eine kleine Stütze im Felsen fand; er faßte festen Kletterschluß mit den Beinen und erwartete den Angriff. Seine Messer an Ellbogen und Helm blitzten.
»Wie Prometheus, der gefesselt am Felsen hängt, den großen Vögeln zur Beute«, sprach er bei sich. »Und warum ist mir niemals klar geworden, daß es ein sehr hoch in den Himmel ragender Felsen
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