~900 Meine Reise auf dem spanischen Jakobsweg. (German Edition)
ein Vogel der langsam höher gleitet. Gleichzeitig bekomme ich Adleraugen. Immer mehr Details kann ich wahrnehmen, die ich sonst übersehen würde. Die aufmerksamen Augen immer auf der Suche nach gelben Pfeilen, Sonnen oder anderen Pilgerzeichen finden nun auch schöne Steine, einen wunderbaren Sonnenuntergang, ein kleines Kreuz am Wegesrand und noch viel kleinere Schönheiten, ohne dass ich wirklich suchen muss. Wie von selbst hängt mein Blick plötzlich dort. Das Meiste davon kann in keinem Foto festgehalten werden. So schön, so besonders ist es.
Ich halte in der brasilianischen Herberge des Weges und verbringe den Rest des Tages mit den üblichen Dingen. Etwas unüblicher ist, dass ich lange Zeit mit der schönen Tochter der Hospitalera rede, die hier Aushilfe leistet und Urlaub macht. Noch spät abends gehen wir ein Stück spazieren und reden über Gott und die Welt. Wirklich ein schöner Abschluss für einen Tag der mich von Ärger übers Gefühl des Fließen und jetzt zu einem nächtlichen Spaziergang in absoluter Stille gebracht hat. Als wir viel zu spät wieder ankommen scheucht mich die Hospitalera ins Bett und singt aus Spaß noch schnell ein deutsches „Schlaf Kindlein schlaf“ was mich sehr überrascht, da sie außer Portugiesisch und Spanisch eigentlich keine Sprachen spricht. Viel später erst soll ich erfahren, dass ihre Mutter aus Deutschland nach Brasilien ausgewandert ist. Ärger, Treiben, Nachtspaziergang und ein sehr seltsamer Zufall. Ich schlafe schnell aber unruhig ein.
18.09.08 0km – Vega de Valcarce - Nullpunkt
Als ich aus dem Bett krabbele und schon recht spät nach unten in die Küche gehe um dort meine Sachen zu packen, ist meine Motivation auf dem Nullpunkt. Die geistige Kraft reich nicht um mich von der Couch aufzuraffen, auf der ich jetzt sitze. So kuschele ich mich dort wieder in meinen Schlafsack und sehe den anderen dabei zu, wie sie frühstücken. In meinem Kopf kämpfen zwei Kräfte gegeneinander. Die eine, die einfach einmal sitzen bleiben und nichts tun möchte, die andere, die es wieder auf den Weg zieht. Ein seltsamer Vorgang und ich bin mir nicht genau sicher wann ich die Entscheidung treffe einfach einmal eine Pause einzulegen. Nach einer Weile frage ich den Besitzer der Herberge ob ich noch einen Tag bleiben kann und nach ein wenig Zögern gibt er mir seine Zustimmung.
Seltsam ist es einmal nicht gehen oder packen zu müssen, den anderen dabei zuzusehen, wie sie sich einer nach dem anderen auf den Weg begibt. Der Tag verspricht schön zu werden, ein wenig bereue ich es, doch habe ich es mir zu Eigen gemacht meine Entscheidungen nicht so schnell zu widerrufen. Es hat seinen Grund, wenn mein Kopf eine Pause verlangt. Vielleicht braucht auch mein Herz eine. Oder meine Wegplanung. Ich bin trotz dieser Pause schon viel weiter gekommen als ich dachte.
Wie in einem schlechten Film schaue ich mir selbst zu, wie ich den anderen zusehe. In meinen Schlafsack eingewickelt sitze ich da, die anderen Frühstücken zu Ende, dann gehen sie. Judith-Ann und Sabine sind auch dabei und verabschieden sich sehr ausführlich von mir. Ich weiß schon jetzt, wie sehr ich die beiden vermissen werde. Diese Verabschiedung ist ein verdammt hoher Preis, über den ich vorher nicht nachgedacht habe. Beinahe, aber nur beinahe, bin ich doch versucht mitzugehen. Ich habe Tränen in den Augen, einige Minuten lang, mein Herz blutet ein wenig.
Ich verbringe den Tag mit Érika, der Tochter der Herbergsmutter, wir schauen uns die Ruine hoch auf dem Berg in Vega de Valcarce an. Wir kaufen ein, essen etwas zum zweiten Frühstück und bringen den Rest des Tages damit herum, dass wir ein wenig im Haushalt helfen. Dafür bekomme ich Mittag-und Abendessen umsonst. Für die Übernachtung bezahle ich natürlich, allein schon aus Anstandsgründen würde ich es nicht annehmen hier umsonst zu bleiben.
Auch wenn die heutigen Gäste der Herberge sich maßlos betrinken gefällt es mir hier recht gut. Am Abend spreche ich noch mit Érikas Mutter, die mich wissen lässt, dass ihre Tochter auch den Camino gehen sollte - aber eigentlich nicht will. Seltsam was manche Mütter von ihren Töchtern erwarten. Aus irgendeinem Grund entscheidet sich Érika tatsächlich dafür den Camino zu gehen, sie hat wohl nur jemanden gebraucht der sie mitnimmt, denn sie bittet mich sie am Anfang zu begleiten. Da ich sie als sehr langsam einschätze weiß ich schon jetzt, dass es eine Nervenprobe wird mit ihr zu gehen. Ich habe
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