99 Särge: Roman (German Edition)
Anruf unterbrochen. Erinnern Sie sich?«
»Es war ein Arzt aus dem Ostchina-Krankenhaus, wenn ich mich recht entsinne. Sie haben mir erzählt, dass Ihre Mutter dort eingeliefert wurde.«
»Ja, aber zu dieser Zeit war sie bereits wieder entlassen. Der Anruf betraf mich.«
»Wieso Sie? Es ist doch nichts Ernstes, Chen?«
»Nein, mir geht es gut. Sie wissen, welche Leute in diesem Krankenhaus behandelt werden? Normalerweise sind es hochrangige Kader, bisweilen auch andere zahlungskräftige Patienten. Es gibt dort eine besondere Station ausschließlich für hohe Kader. Meine Mutter war eine Ausnahme, weil ich dort einen der Ärzte kenne – nennen wir ihn Dr. H.«
»Ich weiß, dass es ein Krankenhaus für Kader ist. Vor ein paar Monaten wollte ich jemanden dort interviewen, aber man hat mich gar nicht erst in das Gebäude gelassen. Damals wurde gerade ein hoher Kader aus Peking dort behandelt.«
»Nun, an jenem Morgen wurde Dr. H auf die Spezialstation gerufen, weil sich Qiangyu einer Routineuntersuchungen unterzog …«
»Qiangyu, der Oberste Parteisekretär von Shanghai?«
»Ja. Dr. H wollte eben mit der Untersuchung beginnen, als Qiangyu einen Anruf bekam, den er auf dem Balkon entgegennahm. Während Dr. H wartete, warf er zufällig einen Blick auf ein Blatt Papier, das neben dem Faxgerät lag. Zu seiner Überraschung sah er meinen Namen und war geistesgegenwärtig genug, die Seite mit seinem Handy zu fotografieren.«
»Was? Der Arzt hat für Sie ein solches Risiko auf sich genommen?«
»Nun, die Kette von fehlgeleitetem Yin und Yang kann lang sein. Jedenfalls glaubte Dr. H, mir etwas schuldig zu sein, aber das ist eine andere Geschichte. In dem Fax schlug Qiangyu vor, mich von meiner Position bei der Shanghaier Polizei abzuberufen und als Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses nach Peking zu schicken.«
»Aber warum gerade Sie?«
»Laut dem Fax hat Qiangyu mich wegen meines Rufs als unkonventioneller Polizeibeamter und wegen meiner englischen Sprachkenntnisse vorgeschlagen. Zugleich hat er darauf hingewiesen, dass meine Methoden bei der Polizeiarbeit zu innovativ und nicht immer im Einklang mit der Parteilinie seien. Natürlich wäre diese Versetzung nur der erste Schritt, über das, was danach passieren würde, kann man nur spekulieren. So jedenfalls hat Dr. H es mir an diesem Nachmittag berichtet.«
Lianping fiel keine passende Erwiderung ein.
In der lastenden Stille, die sich daraufhin ausbreitete, drang von draußen das Schlagen der Wellen, das Schreien der Möwen und das Tuten der Schiffssirenen durch die Dämmerung zu ihnen herein.
»In einer solchen Position hat man keinerlei Einfluss«, sagte Chen schließlich. »Sie ist allenfalls dekorativ. Man will mich von meiner alten Stelle wegloben, um mich in der Versenkung verschwinden zu lassen. Die Taktik ist nicht neu. Nach dem Anruf von Dr. H musste ich an das alte Sprichwort denken: Wenn ein Buddha aus Lehm über den Fluss fährt, kann er sich nicht selbst schützen . Und ich wollte nicht auch noch andere in diese trübe Brühe hineinziehen.«
Lianping sah ihn an. »Deshalb wollten Sie auf einmal zum Bankett des Literaturfestivals.«
»Ja, ich dachte, es sei gut, mich dort zu zeigen.«
»Aber Sie leisten doch hervorragende Arbeit, Chen. Aus diesem Grund hat man Ihnen diesen Fall zugewiesen …«
»Aber um diesen Fall geht es ja gerade.«
»Inwiefern?«
»Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Die Hinweise gehen in die unterschiedlichsten Richtungen, und außerdem rühren zu viele Köche in diesem Brei: Jiang im Auftrag der Stadtregierung, Liu im Auftrag der Parteidisziplinarbehörde, Sheng im Auftrag der Inneren Sicherheit, und dann ist da noch das Team der Zentralen Parteidisziplinarbehörde aus Peking, ganz zu schweigen von Hauptwachtmeister Wei und mir als Vertreter der Shanghaier Polizei. Jeder dieser Ermittler geht mit seiner eigenen Sichtweise und eigenen Interessen an den Fall heran.«
»Stimmt. Erst heute Morgen habe ich Gerüchte über eine mögliche Mission des Pekinger Teams gehört. Aber die kennen Sie vermutlich längst. Bitte erzählen Sie weiter.«
»Unsere Spekulationen können wir später vergleichen. Doch was den Fall Zhou betrifft, so hatte ich von Anfang an meine Bedenken. Schließlich konnte jemand in seiner Situation unmöglich Selbstmord begehen. Mich als Berater einzuschalten war reines Polittheater oder, wie Hauptwachtmeister Yu es formulierte, ich sollte die unabweisbare Tatsache eines Selbstmords absegnen.
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