99 Särge: Roman (German Edition)
weniger von Chens Englisch beeindruckt gewesen als von Gus Beziehungen. Und die brauchte man, wenn man im Herzen der Stadt eine shikumen -Siedlung restaurieren und in ein Geschäftszentrum verwandeln wollte. Solche Beziehungen waren der Schlüssel zum Erfolg, das wussten auch die Amerikaner.
»Ich habe ihn gebeten, mir mit der Übersetzung zu helfen«, fuhr Gu fort, »und ihm einen Bonus versprochen, wenn das Darlehen gewährt würde. Natürlich musste ich mein Wort halten, aber er wollte nichts davon hören. Als die New World dann ihren Betrieb aufnahm, habe ich den versprochenen Bonus einfach in Aktien des Unternehmens umgewandelt. Keine große Summe, nur etwa zehntausend Anteile.«
Lianping, die als Finanzjournalistin mit der Aktie vertraut war, rechnete rasch im Kopf aus, dass dieser Anteil beim derzeitigen Stand von über achtzig Yuan pro Aktie ein kleines Vermögen ergab. Aber warum erzählte Gu ihr das? Es passte nicht zu dem gerissenen Geschäftsmann, als den sie ihn kannte. Dann begriff sie. Gu glaubte zu wissen, was hier vorging: Ein prominenter Parteikader brachte eine junge Frau in das Separee eines schicken Restaurants. Was konnte Gu also tun, um Chen bei seinem romantischen Vorhaben zu unterstützen? Er ließ den Oberinspektor als eine gute Partie erscheinen – er war nicht nur ein aufstrebender Parteikader mit großer Zukunft, sondern auch ein wohlhabender Mann.
»Schluss jetzt, Gu. In Gegenwart einer Finanzjournalistin spricht man besser nicht über Geschäfte. Sonst schreibt sie womöglich noch einen Artikel über meine zwielichtigen Geschäfte mit einem Finanz-Tycoon«, sagte Chen lachend. »Und damit das klar ist: Ich habe diesem Bonus niemals zugestimmt. Für die Übersetzung, die nur etwa zwanzig Seiten umfasste, haben Sie mir dasselbe Honorar bezahlt, das ich sonst für zwanzig Bücher bekomme, es war also mehr als genug.«
»Aber keinesfalls genug für ein so erfolgreiches Projekt«, beharrte Gu und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lianping zu. »In unserer heutigen Gesellschaft sind unbestechliche Polizisten eine vom Aussterben bedrohte Art. Ich bewundere den Oberinspektor nicht wegen seiner Stellung, sondern wegen all dem, was er für sein Land getan hat. Ein gewöhnlicher Geschäftsmann wie ich muss sich extrem glücklich schätzen, jemanden wie den Oberinspektor zum Freund zu haben.«
»Wenn ich eines Tages Chens Biographie schreibe«, entgegnete sie lächelnd, »werde ich Sie zitieren, Gu.«
»Das können Sie gern tun, Lianping. Sie wären überhaupt die ideale Biographin, da sie auch die intimeren Details kennen. Aber lassen Sie mich noch eines hinzufügen, was ich kürzlich über unseren Oberinspektor erfahren habe. Seine Mutter war vergangenen Monat im Krankenhaus.«
»Im Ostchina.«
»Genau. Es ist ein besonders gutes, aber auch sehr teures Krankenhaus. Für die Genesung der Patientin war eine Reihe teurer Nahrungsergänzungsmittel nötig, deren Kosten die Krankenversicherung nicht übernimmt. Auch das Budget eines Polizisten hätten sie bei weitem überschritten. Also habe ich Chens Mutter einen Geschenkgutschein gebracht. Ausnahmsweise wurde mir der Gutschein nicht zurückgegeben, sondern eingelöst. Der Ladenbesitzer hielt Rücksprache mit mir über die Frau, die ihn einlöste. Es war aber nicht Chens Mutter, sondern die Witwe seines verstorbenen Kollegen. Was soll man dazu sagen?«
»Also wirklich, Sie tun ja gerade so, als wäre ich ein selbstloser Musterkommunist wie Lei Feng. Es war ein Gutschein über einen so hohen Betrag, dass meine Mutter mich bat, ihn zurückzugeben«, erklärte Chen. »Wachtmeister Wei ist letzte Woche bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und seine Familie braucht dringend Unterstützung. Also habe ich den Gutschein spontan der untröstlichen Witwe zugesteckt. Es war Ihre gute Tat, Gu, nicht meine. Und gute Taten werden belohnt, wie meine Mutter zu sagen pflegt.«
Chen hatte Lianping nichts davon erzählt, aber als er den Namen des verstorbenen Kollegen erwähnte, erinnerte sie sich an den Unfall.
»Seine Mutter ist eine wundervolle Frau«, sagte Gu. »Sie haben sie doch sicher schon getroffen, oder?«
»Nein, ich habe Oberinspektor Chen ja erst vor wenigen Wochen kennengelernt.«
»In ihrem gesegneten Alter ist sie geradezu eine Verkörperung buddhistischer Erleuchtung. Sie glaubt an das Karma, genau wie ich«, erklärte Gu unerwartet. »Überall in der Welt des roten Staubes kann man sein Wirken erkennen.«
»Ach ja?« Der abrupte
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