99 Särge: Roman (German Edition)
Natürlich wird auch das Netz von der Regierung zensiert, aber der eine oder andere Fisch schlüpft eben doch durch. Immerhin sind diese Websites auf Profit aus und locken deshalb mit Sensationsmeldungen, die man in den Parteiorganen nicht findet.«
»Ich bin dir wirklich zu Dank verpflichtet, Peiqin. Das war eine aufschlussreiche Lektion«, sagte Chen. »Aber ich habe noch eine ganz konkrete Frage. Was versteht man unter einer Menschenfleischsuche?«
»Oh, ich hoffe du bist nicht zur Zielscheibe einer solchen Recherche geworden, Genosse Oberinspektor«, sagte sie mit spöttischem Lächeln. »Nein, das war nur ein Scherz. Wann und wo es angefangen hat, kann ich nicht sagen. Vermutlich in einem der kritischen, aber populären Foren, wo Nutzer, auch Netzbürger genannt, ihre eigenen Kommentare abgeben. Das Internet ist die einzige Form von Öffentlichkeit, wo die Leute, zumindest in gewissem Umfang, ihre Bürgerrechte ausüben und ihre Meinung frei äußern können. Und Menschenfleisch heißt es deshalb, weil es eine von Menschen und nicht von Computern durchgeführte Ermittlung ist. Heute versteht man darunter, dass Netzbürger – besonders motivierte Netznutzer – untereinander Informationen austauschen oder sich Hinweise geben, wie man an Informationen kommt. Ähnlich wie bei personalaufwendigen Ermittlungen, nur dass die Zielperson im Internet gejagt wird. Inzwischen meint der Begriff sowohl eine Suche von Menschen als auch die Suche nach Menschen, die im Cyberspace stattfindet, aber durchaus reale Folgen haben kann. Sie kann sich auf alle möglichen Ziele richten, zum Beispiel korrupte Regierungsbeamte, Neureiche, die urplötzlich zu unvorstellbarem Reichtum gekommen sind, Intellektuelle, die sich der Staatsmacht andienen, oder es geht um sonstige politisch oder gesellschaftlich sensible Themen.«
»Kannst du mir ein Beispiel geben, Peiqin?«
»Es gab da kürzlich einen Fall in der Provinz Yunnan. Ein Amateurhacker ist in das private Tagebuch eines örtlichen Parteifunktionärs eingedrungen und hat den Text von dessen Laptop ins Internet gestellt. Der Mann hieß Miao und war Leiter des lokalen Tabakmonopols. Seine Position war zwar nicht einflussreich, aber durchaus einträglich. Der Inhalt seines Tagebuchs erwies sich als delikat: Schilderungen seiner außerehelichen Affären, seiner inoffiziellen, schmutzigen Geschäfte im Namen der Partei, seines Zugriffs auf öffentliche Gelder und Berichte über Bestechungen im Rahmen eines weit gespannten Beziehungsnetzwerks. Das Tagebuch liest sich wie ein Roman, in dem die Akteure mit Initialen bezeichnet werden, sogar Daten und Lokalitäten sind angegeben. Keine große Sache, wirst du vielleicht denken, denn wer kann schon sagen, ob es sich dabei um Wahrheit oder Fiktion handelt. Aber weißt du was? Sofort begann eine Massenermittlung im Netz. Die Netzbürger waren mit Feuereifer dabei und konnten sämtliche Frauen, die angeblich eine sexuelle Beziehung mit dem Mann hatten, aufspüren, manche sogar mit eindeutigen Fotos. Dasselbe passierte mit den involvierten Parteifunktionären. Indem die Netzbürger gnadenlos Daten und Orte recherchierten, konnten sie die Authentizität des Tagebuchs zweifelsfrei feststellen.
Daraufhin wurde Miao seiner Ämter enthoben und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er angeblich unter den Einfluss eines üblen westlich bourgeoisen Lebensstils geraten sei.«
»Die Netzbürger haben gut daran getan, dieses faule Ei auszusortieren«, sagte Chen. »Auf der anderen Seite – wer gibt ihnen das Recht, in die Privatsphäre anderer einzudringen?«
»Wer gab denn dem Parteifunktionär das Recht, all diese schrecklichen Dinge zu tun? Es ist das Einparteiensystem mit seiner absoluten Macht und Medienkontrolle, das derartigen Machtmissbrauch ermöglicht. Meinst du nicht, dass Leute, egal ob Netzbürger oder nicht, etwas dagegen unternehmen sollten? Ich weiß, dass eine solche Massenermittlung das Problem nicht wirklich löst. Aber einen dieser korrupten Kader zu entlarven ist besser als gar keinen. Inzwischen hat sich diese Art der Internetsuche zur Methode entwickelt. Sobald der Name eines Beamten im Internet auftaucht, bestreitet er oder sie natürlich, etwas falsch gemacht zu haben, und wehrt sich, indem er den Netzbürgern mit juristischer Verfolgung droht. In der Regel stellt sich die Regierung hinter ihre Beamten, wenn sie Zielscheibe eines solchen Angriffs geworden sind, aber man hält sich im Hintergrund. Wenn dann aber neue, nicht
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