99 Särge: Roman (German Edition)
Weise treiben die Einkünfte aus Immobilienverkäufen das Bruttosozialprodukt der Stadt in die Höhe, was die Funktionäre nicht nur als persönlichen Erfolg verbuchen, sondern sie lassen auch Gewinne in ihre Taschen wandern. Man kann sich vorstellen, mit welch dubiosen Praktiken die Grundstücksvergabe vor sich geht. Vor kurzem hat der Premierminister angekündigt, den überhitzten Immobilienmarkt zu drosseln. Das hat die Investoren sofort nervös gemacht, und sie boten an, die Preise ein wenig zu senken. Da hat Zhou Panik bekommen und einen Schneeballeffekt befürchtet. In der fraglichen Rede hob er hervor, wie wichtig es sei, den Markt stabil zu halten. Er kündigte an, die Regierung werde die Unternehmer wegen unverantwortlicher Preissenkungen zur Verantwortung ziehen, weil sie damit der Volkswirtschaft schadeten. Die Rede war in mehreren Zeitungen abgedruckt, zusammen mit einem Foto, auf dem er während seines Vortrags mit einem Päckchen Zigaretten auf das Pult klopfte – 95 Supreme Majesty.
Mit dieser Rede hat er in ein Wespennest gestochen. Was Zhou sagte, war natürlich im Interesse der Stadtregierung und der Parteikader, keineswegs aber im Interesse der einfachen Bürger. Deshalb war das Päckchen 95 Supreme Majesty der ideale Auslöser für eine Massenermittlung, bei der die Leute ihren Frust abreagieren konnten.«
»Alle Achtung, Peiqin«, sagte Chen und prostete ihr mit seinem Qingdao-Bier zu. »Erzähle weiter.«
»Glaubt man der offiziellen kommunistischen Propaganda, so verdient ein Parteikader, der ja ein ›Diener des Volkes‹ ist, etwa genauso viel wie ein einfacher Arbeiter. Das würde für jemand in Zhous Position ein monatliches Einkommen von zwei- bis dreitausend Yuan bedeuten, aber eine Stange 95 Supreme Majesty kostet bereits wesentlich mehr als das. Unter dem Foto im Internet war der Weiterverkaufspreis der Zigaretten vermerkt, als Hinweis auf den extravaganten Lebensstil dieses Beamten. Also lag die Frage nahe: Wie konnte Zhou sich so etwas leisten, es sei denn, er wäre korrupt?
Dieser Eintrag wurde im Internet in null Komma nichts millionenfach angeklickt, und wie Schlachtrufe tauchten überall Forderungen nach einer Massenermittlung auf. Wenn Zhou sich solche Zigaretten leisten konnte, was leistete er sich sonst noch alles?
Die Netzbürger empfanden es als moralische Pflicht, dieser Frage nachzugehen. Und noch bevor Zhou sich mit einer Erklärung rechtfertigen konnte, tauchte ein Foto auf, das ihn mit einer teuren Cartier-Uhr zeigte. In atemberaubender Geschwindigkeit folgten weitere Bilder und Informationen, die als untrügliche Beweise für seinen dekadenten Lebensstil dienen konnten: drei Luxuslimousinen, die unter seinem Namen gemeldet waren – zwei Mercedes und ein BMW –, und die Tatsache, dass sein Sohn am Eton-Collge in London studiert und einen Audi fährt. Zudem ließ sich nachweisen, dass Zhou mehr als fünf Grundstücke in der Stadt besaß. Ein paar findige Netzbürger trieben sogar die Grundbucheinträge auf. Schließlich konnte Zhou nicht mehr erklären, wie er in den letzten fünf, sechs Jahren zu so viel Reichtum gekommen war.«
»Allmählich verstehe ich, Peiqin. Diese Massenermittlung war ein genialer Coup.«
»Ja, die Regierung ist wirklich in Bedrängnis geraten. Sie wussten nur zu gut, warum Zhou zur Zielscheibe geworden war. Aber nachdem so viele Leute mit untrüglichen Beweisen in der Hinterhand auf ihn deuteten, konnten sie ihn nicht länger schützen, und das Ansehen der Partei war ihnen natürlich wichtiger, deshalb beschlossen sie, Zhou einem shuanggui zu unterziehen – wegen einer Packung 95 Supreme Majesty.«
»Vielen Dank, Peiqin. Jetzt ist mir manches klarer«, sagte Chen.
»Dann wirst du also in dem Fall ermitteln?«
»Nicht direkt«, antwortete er mit einem schiefen Lächeln. » Shuanggui ist keine Angelegenheit der Polizei. Man glaubt, dass Zhou während seiner Internierung im Hotel Selbstmord begangen hat. Ich fungiere nur als Berater für die Kollegen, die die Umstände seines Todes klären sollen.«
»Zhou ist tot?«
»Ja. Demnächst wird es in allen Zeitungen stehen.«
»Dann wird ein weiterer Sturm im Netz losbrechen: Selbstmord während eines shuanggui . Wie werden die Netzbürger darauf reagieren?«
»Das weiß niemand.«
»Jetzt habt ihr lange genug über Internetrecherche geredet«, unterbrach Yu, »was ich vermisse, ist der Nachtisch.«
»Entschuldigung, den habe ich ganz vergessen«, erwiderte Peiqin hastig. »Ein Pekinger
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