99 Särge: Roman (German Edition)
von der Hand zu weisende Fakten über Korruption oder Machtmissbrauch ans Licht kommen, sieht sich die Regierung nicht selten genötigt, ein shuanggui durchzuführen.«
»Ja, ich habe von der Rolle gehört, die tapfere Netzbürger bei den Enthüllungen über den Milchskandal gespielt haben. Sie haben im ganzen Land bekanntgemacht, dass Milchpulver mit Melamin versetzt war«, warf Yu ein. »Die Provinzregierung hat versucht, die Geschichte zu vertuschen, weil es sich bei dem Milchpulverhersteller um einen wichtigen Arbeitgeber handelte, aber die Information verbreitete sich wie ein Lauffeuer über das Internet. Aussagen und Bilder von Opfern wurden ins Netz gestellt, daraufhin sah sich die Parteiführung gezwungen, den Fabrikbesitzer ins Gefängnis zu bringen.«
»Noch einmal zurück zur Menschenfleischsuche, Peiqin«, sagte Chen. »Hast du auch von einem gewissen Zhou gehört, der über ein Päckchen Zigaretten gestolpert ist?«
»Ach ja, die Sache mit den 95 Supreme Majesty . Der Mann hat einfach Pech gehabt.«
»Wie meinst du das, Peiqin?«
»Dazu muss ich dir zuerst von dem kleinen Laden neben dem Restaurant erzählen, in dem ich arbeite. Das Geschäft hat sich auf den An- und Verkauf teurer Zigaretten und Spirituosen spezialisiert. Wie du weißt, bekommen Parteifunktionäre ab einem gewissen Rang ein oder zwei Stangen Zigaretten pro Monat umsonst, angeblich für ihre sogenannten sozialistischen Aufwendungen. Wahrscheinlich sind nicht alle Marken so teuer wie 95 Supreme Majesty , aber sie bringen immerhin fünf- bis sechshundert Yuan pro Stange . «
»Ja, ich muss zugeben, dass ich auch monatlich eine kostenlose Stange bekomme«, sagte Chen, »aber die rauche ich auf, bevor der Monat vorüber ist.«
»Selbst die Nichtraucher unter den Beamten bekommen diesen Bonus von der Partei; da bei solchen Zuwendungen kein Bargeld fließt, braucht sich niemand Sorgen zu machen. Entweder man raucht die Zigaretten selbst oder verkauft sie in einem solchen Laden. Das ist kein Geheimnis.«
Chen ging nicht weiter darauf ein. Er selbst hatte gelegentlich auch andere »Geschenke« dieser Art angenommen, sie aber niemals weiterverkauft.
»95 Supreme Majesty mag teuer sein« , fuhr Peiqin fort, »aber ich sehe daran nichts Überraschendes oder Anrüchiges. Wir Chinesen haben schon genug erlebt im Sozialismus chinesischer Prägung. Es wäre eher verwunderlich, wenn ein Aufsteiger wie Zhou keine dieser teuren Marken rauchen würde.«
»Aber warum wurde Zhou dann Zielscheibe einer Massenermittlung?«
»Das Foto mit der Packung 95 Supreme Majesty steht in Zusammenhang mit einer Rede, die er bei einer wichtigen Sitzung gehalten hat. Rate mal, worum es an jenem Tag ging.« Ohne auf Chens Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Um die Notwendigkeit, den Immobilienmarkt stabil zu halten. Das heißt konkret, dass die Preise nicht fallen dürfen. Momentan kostet ein Quadratmeter im Finanzdistrikt Lujiazui hundertdreißigtausend Yuan. Ich müsste vier oder fünf Jahre ununterbrochen schuften, ohne einen Cent auszugeben, um mir dort einen einzigen Quadratmeter leisten zu können. Wir stehen nicht schlecht da mit der zentral gelegenen Eineinhalbzimmerwohnung, die uns – dank deiner Hilfe – von der staatlichen Wohnungsbaubehörde zugewiesen wurde. Schwierig wird es, wenn Qinqin die Universität abgeschlossen hat. Wie können Menschen wie wir sich jemals Wohnraum leisten, wenn die Preise nicht sinken? Es wird ihnen vermutlich genauso ergehen wie uns, bevor wir hier eingezogen sind. Du weißt ja, dass wir jahrelang mit dem Alten Jäger zusammengewohnt haben, drei Generationen in zwei Zimmern.«
»Mach dir darüber doch nicht jetzt schon Gedanken, Peiqin«, bemerkte Yu mit einem matten Lächeln.
»Du denkst nur an deine Polizeiarbeit, aber ich muss an unseren Sohn denken. Im heutigen Shanghai kann man keine Beziehung mit einer jungen Frau eingehen, geschweige denn ans Heiraten denken, wenn man keinen Wohnraum zu bieten hat. Die jungen Menschen sind so realistisch geworden in dieser materialistischen Zeit«, entgegnete sie stirnrunzelnd, dann wandte sie sich wieder an Chen. »Aber zurück zu deiner Frage. Weißt du, warum die Immobilienpreise immer weiter steigen?«
»Wegen der Gier der Investoren.«
»Nein. Wegen der noch größeren Gier der Parteifunktionäre. Das Land gehört der Regierung, und unter deren Kontrolle kommt es zum sogenannten Auktionssystem: Der Investor, der den höchsten Preis bietet, bekommt den Zuschlag. Auf diese
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