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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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in einem Shanghaier Nobelhotel abgestiegen war, brachten ihn jetzt nicht weiter, er hatte schon genug um die Ohren. Wie ein Tourist verlangsamte Chen seine Schritte und zog sein Handy aus der Tasche. Er kannte einen pensionierten Polizeibeamten, der den Spitznamen »Meister Enzyklopädie« trug. Dessen Nummer wählte er jetzt.
    »Warum haben sich diese Leute ausgerechnet die Villa Moller ausgesucht?«, fragte Chen den Pensionisten. »Können Sie mir etwas über die Geschichte des Hauses erzählen?«
    »Nach 1949 war dort die Kommunistische Jugendliga Shanghai untergebracht. Das Gebäude unterstand der Stadtregierung, aber gleichzeitig auch der Zentralen Kommunistischen Jugendliga in Peking. Viele der hochrangigen Kader in der Verbotenen Stadt haben ihre Karriere in der Jugendliga begonnen, eine sehr einflussreiche Gruppierung in der Machtstruktur der Partei.«
    »Haben Sie vielen Dank, Meister Enzyklopädie.«
    Endlich dämmerte es ihm. Auch der derzeitige Generalsekretär der Partei war in der Kommunistischen Jugendliga gewesen. Er und seine Leute, auch unter der Bezeichnung »Jugendliga-Bande« oder »Shanghai-Bande« bekannt, waren eine Gruppierung, aus der sich viele hohe Kader rekrutierten, so auch der leitende Parteikader Shanghais, ein gewisser Qiangyu. Es hieß, sie stünden in Opposition zur sogenannten Jugendliga-Bande aus Peking.
    Dass ein Team der Zentralen Pekinger Parteidisziplinarbehörde nach Shanghai kam und sich in diesem speziellen Hotel einquartierte, konnte ein Anzeichen für eine Intensivierung des Machtkampfes an der Führungsspitze sein. Was das allerdings mit dem Fall Zhou zu tun haben sollte, war Chen schleierhaft.
    Aber in der Tat konnte ein derartiger Machtkampf ein weiterer Faktor sein, weswegen Chen noch nicht zum Parteisekretär der Shanghaier Polizei aufgestiegen war. Man munkelte, Chen habe angeblich Verbindungen zu hohen Kaderkreisen in Peking, etwa zum Genossen Zhao, dem ehemaligen Parteisekretär der Zentralen Parteidisziplinarbehörde. Dabei hatte der Genosse Zhao ihn schon länger nicht mehr kontaktiert, und auch über die Ankunft der Pekinger Delegation war Chen nicht informiert worden.
    Statt Jiangs Zimmer im Nebengebäude aufzusuchen, begab Chen sich vorsichtshalber zur Rezeption im Haupthaus, wo man sich nicht registrieren musste.
    »Es tut mir leid, wir haben hier gerade eine Tagung, das Hotel ist derzeit für den Publikumsverkehr geschlossen.«
    »Das ist aber schade! Wo ich doch schon so viel über diese Villa gehört habe.« Chen griff nach einer Broschüre und fragte dann: »Und was passiert mit den Gästen, die hier bereits abgestiegen sind?«
    »Die müssen leider ausziehen – so rasch wie möglich.«
    Da war etwas im Gange. Vielleicht wäre auch Jiang nicht von dieser Anordnung ausgenommen und würde das Hotel verlassen müssen, überlegte Chen.
    Dann verließ er wie ein enttäuschter Tourist die Lobby und sah sich vorsichtig um, bevor er die Straße überquerte und auf ein neu eröffnetes Restaurant zusteuerte.
    Das Lokal nannte sich Nordost-Familienrestaurant und machte mit einer Reihe roter Lampions vor einer rustikalen Fassade auf sich aufmerksam. Er trat ein und ging in den ersten Stock hinauf, wo er zu seiner Überraschung etliche Kangs entdeckte – oder zumindest Sitzkojen an den Fenstern, die wie gemauerte Ofenbetten aussahen und von denen man die Shaanxi Lu überblicken konnte. Neugierig trat er näher.
    Ein Kellner kam herbeigeeilt und sagte höflich: »Entschuldigen Sie, aber das ist ein Tisch für sechs Personen.«
    Doch genau von diesem Tisch aus konnte er das Hotel im Auge behalten.
    »Wie hoch ist die Mindestverzehrsumme?«
    Manche Restaurants legten für ein Separee eine Mindestverzehrsumme fest, hier schien das auch für die besseren Tische am Fenster zu gelten.
    »Normalerweise sechshundert Yuan. Unsere Spezialitäten aus dem Nordosten sind aber nicht teuer; für diese Summe bekommen Sie schon ein kleines Bankett. Allein können Sie das gar nicht bewältigen.« Der Kellner machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Lassen wir also die Mindestverzehrsumme ausnahmsweise beiseite, mein Herr«, sagte er entgegenkommend. »Wir haben hier auch Tischdamen. Für nur hundert Yuan setzt sich jemand zu Ihnen und erklärt die Reize der nordostchinesischen Küche.«
    »Gut, dann bezahle ich für die Gesellschaft. Aber zunächst möchte ich lieber ein wenig allein sein.«
    »Wie Sie wünschen, mein Herr. Ich werde Ihnen eine Kanne Drachenbrunnentee aufbrühen

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