Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
Vom Netzwerk:
verbracht. Sie hatten Übernachtungsbesuch von Verwandten aus Anhui. Ihr Alibi ist also überzeugend«, schloss Wei nach einem weiteren Blick in seine Unterlagen. »Jetzt macht sie sich Sorgen um ihren Job. Sie dürfte in Kürze entlassen werden, denn Dang wird sie wohl kaum in dieser wichtigen Position belassen.«
    Es war ein langes Telefongespräch. Chen wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Hauptwachtmeister Wei hatte gründlich recherchiert, und wie Jiang hielt er die Sekretärin nicht für eine Tatverdächtige. Sie hatte kein Motiv.
    Chen fragte sich, ob es sich lohnte, selbst mit Fang zu sprechen. Dann fiel ihm wieder ein, was die Wenhui -Journalistin ihm am Morgen aus der Zeitung vorgelesen hatte: »Es gibt keine Hinweise dafür, dass es sich bei dem Tod von Zhou nicht um Selbstmord handeln könnte.« Der Satz schien provozierend in der stillen Einsamkeit des Zimmers nachzuhallen.
    Angeblich stammte das Zitat von Oberinspektor Chen persönlich, doch er hatte nichts dergleichen geäußert. Aber vielleicht war diese Aussage gar nicht so weit von der Realität entfernt. Zumindest nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen.
    Chen stand auf, um sich einen kleinen Whiskey aus der Flasche einzuschenken, die er als Andenken aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. Er hoffte, dass ihn der Alkohol wieder auf Trab bringen würde, doch schon nach dem ersten Schluck brach Chen in unkontrollierbares Husten aus.
    Ein weiterer verschwendeter Tag. Im Rückblick war Lianpings Frage nach seinen Gedichten der einzige Lichtblick gewesen. Doch das war nur ein flüchtiger Moment gewesen. Auch mit ihr hatte er am Telefon vor allem über seine angebliche Stellungnahme zu den Ermittlungen geredet.
    Er fühlte sich ausgebrannt. Passende Zeilen des Dichters Du Fu fielen ihm ein: Meine Schläfen hat der Frost der Widrigkeiten ausgebleicht / selbst für einem Schluck aus der gesprungenen Weinschale bin ich zu matt.
    Während seines Studiums hatte er Du Fu nicht besonders geschätzt, er schien ihm zu sehr dem Konfuzianismus zugewandt. Er war Chen zu ernst, zu belehrend, und in seinen pathetischen Strophen sorgte er sich ständig um das Wohl des Staates.
    Wie rasch doch die Zeit verging. Wie lange lief Chen nun schon in der Tretmühle des Polizeidienstes? Nach anfänglicher Überwindung hatte er sich zunächst mit idealistischem Elan in seine Aufgaben gestürzt. Und nun? Inzwischen rollte er mit existenzialistischem Gleichmut den Fels täglich bergan, nur um ihm anschließend beim Hinunterrollen zuzusehen. Seine Gedanken wurden durch Hauptwachtmeister Yu unterbrochen, der ihn trotz der späten Stunde noch anrief.
    »Sieh dich vor, Chef. Jetzt hat sich auch noch die Innere Sicherheit eingeschaltet.«
    »Die Polizei der Polizei – warum denn das?«
    »Das dürftest du besser wissen als ich.«
    Aber er hatte einen Großteil des Nachmittags außerhalb des Präsidiums verbracht und nichts mitbekommen. Wenn die Staatssicherheit sich einschaltete, so bedeutete dies, dass die Sache der normalen Polizei entweder zu brenzlig oder zu undurchsichtig wurde.
    Oder man wollte den Polizeibeamten auf die Finger schauen.
    Wie auch immer, das Interesse des Inlandsgeheimdiensts verhieß nichts Gutes für die Ermittlungen.
    Inzwischen fühlte Chen sich richtig krank.

10
    Zusammengekauert und mit brummendem Kopf saß Chen im Fond des Dienstwagens und erledigte schwitzend einen Anruf nach dem anderen.
    Am Wochenende war er krank gewesen und hatte sich auch den Montag noch so miserabel gefühlt, dass er den Tag allein und bei ausgeschaltetem Telefon zumeist im Bett verbracht hatte. Am Dienstag hatte er dann erfahren, dass Wei tags zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
    Dem Oberinspektor blieb nichts anderes übrig, als ein paar Aspirin-Tabletten einzuwerfen und mit einem Reservepäckchen in der Hosentasche ins Präsidium zu eilen.
    Sein Fahrer, der dürre Wang, war ein großer Bewunderer des Oberinspektors, dessen reale Person er mit den fiktionalen Helden aus seiner umfangreichen Krimilektüre verquickte. Auch er hatte bereits vom Tod des Hauptwachtmeisters gehört. Eine Hand am Steuer des Dienstwagens, löcherte er Chen, mit der anderen Hand gestikulierend, mit seinen Fragen.
    Wie aus dem Ruijin-Hospital verlautete, war Wei als nicht identifiziertes Opfer eines Autounfalls an der Kreuzung Shaanxi und Weihai Lu in die Notaufnahme gebracht worden – er hatte weder einen Ausweis bei sich, noch trug er Uniform. Dort

Weitere Kostenlose Bücher