99 Särge: Roman (German Edition)
anderen Seite der Yan’an Lu stieg er die Treppe wieder hinunter. Ein Hochhaus ragte im Nachmittagslicht vor ihm auf – das Wenhui-Gebäude an der Weihai Lu. Es beherbergte die Redaktion der Wenhui -Tageszeitung, aber auch das Xinming -Abendblatt und die Shanghai Daily , eine englische Tageszeitung. Sie alle gehörten, zusammen mit weiteren kleinen Zeitungen, zur Wenxin-Gruppe.
Der Unfall war unweit der Kreuzung Shaanxi und Weihai Lu passiert. Der Ort war zu verkehrsreich, als dass man die Unfallstelle mit einem gelben Band abgesperrt hätte. Kein Polizist war vor Ort.
Chen beschloss, erst einmal die Gegend zu erkunden. Wie auf ein Stichwort klingelte sein Mobiltelefon. Der Verkehrspolizist, der den Unfall aufgenommen hatte, rief zurück.
»Hauptwachtmeister Wei wurde in der Weihai Lu überfahren, als er gerade nach Osten in die Shaanxi Lu einbiegen wollte. Das haben mehrere Zeugen bestätigt. Man kann auch nicht ausschließen, dass er zunächst am Wenhui-Gebäude vorbeiging und dann wieder umdrehte, aber das halte ich eher für unwahrscheinlich. Bei dem Fahrzeug handelte es sich um einen braunen SUV , der ein paar Häuser weiter unten an der Weihai Lu geparkt war. Plötzlich ist der Wagen, von Osten kommend, aus der Parkbucht ausgeschert und hat Wei überfahren. Alles ging rasend schnell. Laut einer Zeugenaussage hat der SUV nur kurz abgebremst, nachdem er Wei erfasst hatte, ist dann aber schnell in die Shaanxi Lu eingebogen. Der Fahrer hat sich wohl kurz umgesehen, ist jedoch weitergefahren, als er sah, dass jede Hilfe zu spät kam.«
»Hat der SUV ihn frontal erwischt?«, fragte Chen.
»Ja, mit vollem Tempo.«
»Dann muss sich der SUV aber auf der falschen Fahrspur befunden haben.«
»Vermutlich Alkohol am Steuer, Oberinspektor Chen. Zum Glück war nicht gerade Schulschluss, sonst hätten wir womöglich noch mehr Opfer zu beklagen.«
»Ich danke Ihnen. Faxen Sie mir den Bericht bitte in mein Büro. So detailliert wie möglich. Ich bin demnächst zurück.«
In der nächsten halben Stunde ging Chen, das Handy in der Hand, die Weihai Lu auf und ab. Irgendetwas an diesem Unfall-Szenario stimmte nicht.
Die Weihai Lu war eine zweispurige Straße. Ein nach Westen fahrendes Auto konnte unmöglich aus Versehen auf die Fahrspur vor dem Wenhui-Gebäude gelangen, es sei denn, der Fahrer hätte unter Alkoholeinfluss die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und den Wagen scharf nach links gezogen. Chen konnte sich einen so fatalen Schwenk allerdings kaum vorstellen.
Als er ein weiteres Mal am Wenhui-Gebäude vorbeikam, bemerkte er auf dem Gehweg einen Nudelstand, der lediglich aus zwei Töpfen, einem mit kochendem Wasser und einem mit Brühe, bestand, die von tragbaren Gasflaschen erhitzt wurden. Dazu gab es eine Auswahl an Fleisch und Gemüsebeilagen, die in einem großen Glaskasten bereitlagen. Der Koch und Besitzer schien in der Nähe zu wohnen und pries seine Suppe so beredt an, als nähme er an einer Kochsendung teil. Er versenkte die Nudeln kurz im heißen Wasser, fischte sie aber gleich wieder heraus, goss mit Brühe an und gab die Beilagen darüber.
Chen ging zu dem Stand und setzte sich an einen der roh gezimmerten Holztische. Neben sich bemerkte er einen Träger mit zwei, drei Bierflaschen. »Eine Flasche Bier und eine Portion Entenfleisch als Vorspeise bitte, dann die Nudeln.«
»Mittags verkaufen wir hier kein Bier. Das ist mein privater Vorrat, aber wenn Sie unbedingt eine Flasche wollen, macht das zwanzig Yuan. Wir servieren die Nudeln nach Hongkong-Art, aber Sie können die Beilagen auch separat bekommen.«
»Das wäre nett, ich meine, wenn Sie sie ›Über die Brücke‹ servieren könnten«, sagte Chen.
»Kennen Sie die Geschichte dazu?«, erkundigte sich der Besitzer leutselig und wartete eine Antwort gar nicht erst ab. »In den alten Tagen bereitete sich ein Gelehrter auf einer abgelegenen Insel in Yunnan auf die Beamtenprüfung vor. Seine treusorgende Frau musste ihm sein Essen über eine Brücke bringen. Eines seiner Lieblingsgerichte war Reisnudelsuppe mit verschiedenen Beilagen. Aber während des langen Weges verloren die Nudeln an Geschmack, weil sie zu lange in der Brühe gelegen hatten. Also füllte die Frau die dampfende Hühnersuppe in einen speziellen Behälter, verpackte auch die Nudeln und Beilagen separat und mixte sie erst zusammen, als sie bei ihrem Mann angekommen war. Auf diese Weise blieben sowohl die Nudeln wie auch die Beilagen frisch. Wohlgenährt durch die köstliche
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