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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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lassen.«
    Chen hatte sich den Fensterplatz gesichert, auch wenn das Sitzen auf dem Kang eher unbequem war. Man nahm dort mit untergeschlagenen Beinen die Mahlzeit von einem kleinen Tischchen ein. Die Einrichtung hatte nur noch entfernt Ähnlichkeit mit ländlichen Bauernhäusern. Chen zog die Schuhe aus, stieg auf den Kang und blickte aus dem Fenster.
    Auf der anderen Straßenseite schimmerte das Hotel in der Sonne und erinnerte auch nach so vielen Jahren noch an das Märchenschloss, das sich das kleine Mädchen einst erträumt hatte.
    Sofort fiel ihm auf, dass das Hotel an diesem Morgen verändert wirkte. Eine geschlagene Viertelstunde lang sah er niemanden hineingehen oder herauskommen. Nur zwei oder drei Luxuslimousinen mit vorgezogenen Gardinen waren zu sehen. Kein einziges Taxi. Das Hotel hatte sich in einen politischen Stützpunkt verwandelt.
    Dann kam die junge Tischdame; sie trug die Tracht des Nordostens und sprach mit einem leisen Anklang an den dortigen Dialekt.
    »Haifischflossen sind die Spezialität unseres Hauses, mein Herr.«
    »Haifischflossen werden in jedem Restaurant als Spezialität angeboten. Die muss ich nicht unbedingt hier bestellen. Was können Sie mir denn sonst noch empfehlen?«
    »Sie kennen sich aus«, sagte sie, während sie ihre Sandaletten abstreifte und sich auf der Kante des Kangs niederließ. Er fragte sich, ob sie während des gesamten Essens dort sitzen bleiben würde, wie er es in einem Film über ein Ehepaar aus dem ländlichen Nordosten gesehen hatte.
    »Danke«, sagte er und zog eine Zehn-Yuan-Note aus seiner Geldbörse. »Hier ist ein kleines Trinkgeld für Sie, aber ich möchte vorerst allein bleiben.«
    »Wie Sie wünschen, Älterer Bruder«, antwortete sie, stand auf und griff nach dem Geldschein. »Wenn Sie etwas wünschen, rufen Sie mich einfach. Wir bieten hier alle Arten von Dienstleistungen. Auch nach dem Essen in speziellen Separees.«
    »Ich melde mich.«
    Kurz nachdem er bestellt hatte, wurden die Gerichte auf dem kleinen Tischchen drapiert. Der Nordosten verfügte nicht über eine der führenden Küchen Chinas, war aber bekannt für seine pikante Hausmannskost. Chen nahm sich ein Stück gebratenen Tofu, nippte an seinem Tee und zog sein Notizbuch heraus.
    Er stellte einen genauen Zeitplan auf, um sich über den Ablauf des Tages von Weis Unfall klar zu werden. Wei hatte das Haus wie ein Tourist gekleidet verlassen. Seine Aufmachung ließ darauf schließen, dass er inkognito im Hotel erscheinen wollte, auf der Suche nach etwas, das ihm als Polizist nicht zugänglich wäre. War das Hotel bereits gestern wegen der mysteriösen Delegation aus Peking für Besucher geschlossen gewesen? Letztlich war das egal. Wei war um acht Uhr von Zuhause weggegangen und gegen neun hier in der Gegend aufgetaucht. Drei oder vier Stunden später befand er sich dann am Unfallort, obwohl dieser höchstens fünf Gehminuten vom Hotel entfernt lag. Wo hatte Wei sich in der Zwischenzeit aufgehalten?
    Vielleicht hatte er ja, genau wie Chen, hier am Fenster gesessen und das Hotel beobachtet. Sich Wei an diesem Platz vorzustellen, war gespenstisch …
    »Großer Bruder, Ihr Essen wird ja kalt.« Die Tischdame war zurückgekehrt.
    Sie hatte recht. Manche Gerichte hatte er noch nicht einmal probiert. Er fragte sich, wie lange er so in Gedanken versunken dagesessen hatte.
    »Es schmeckt gut, aber ich habe keinen Appetit mehr.« Dann fügte er, entschuldigend auf einige der Gerichte weisend, hinzu: »Tut mir leid, diese hier habe ich gar nicht angerührt.«
    »Macht nichts. Eigentlich hätte ich Ihnen ja Gesellschaft leisten sollen, aber jetzt muss ich wohl alles allein aufessen.«
    Er verlangte die Rechnung, die etwas mehr als dreihundert Yuan betrug, einschließlich der Gebühr für die Tischdame. Sie schrieb ihren Namen und ihre Telefonnummer auf die Rechnung.
    »Rufen Sie mich nächstes Mal direkt an.«
    Im Hinausgehen warf er einen Blick auf seine Uhr. Beinahe halb eins.
    Die Metalltreppe der Fußgängerüberführung machte ihm Mühe. Obwohl er noch nichts geleistet hatte, fühlte sich ausgebrannt. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Unter ihm floss der Verkehr dahin wie ein träger Strom.
    Die Erinnerung an eine Steinbrücke tauchte auf, die er vor vielen Jahren einmal überquert hatte, Blätter raschelten unter seinen Sohlen, das Wasser unter dem Brückenbogen murmelte … Ein Erinnerungsfetzen, der für einen Moment aufblitzte und dann verschwamm.
    Auf der

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