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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht Meister Chen nennen sollst.«
    »Mein Vater hat Sie so angesprochen, und der alte Herr hatte immer recht.«
    Der Kleine Bao reichte ihm eine Teeschale, und Chen sog den herrlichen Duft ein, der von dem grünen Tee aufstieg.
    »Nicht viel los heute, was?«
    »Überhaupt nichts. Nach weniger als einem Monat kannte ich alle, die hier arbeiten. Die müssen sich natürlich nicht ins Besucherbuch eintragen. Und Mitglieder, die öfter mal vorbeischauen, kennen die Regeln und tragen sich unaufgefordert ein.«
    Chen nickte und nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee.
    »In den Tagen meines Vaters, ging es hier ziemlich lebhaft zu. Da kamen jede Menge Besucher, vor allem junge Leute – die sogenannte ›literarische Jugend‹. Heutzutage würde sich kein Mensch mehr so nennen.«
    »Ja, leider.«
    »Also sitze ich hier den ganzen Tag herum und habe kaum etwas zu tun. Das sehen Sie ja am Besucherbuch. Weniger als zehn Seiten in einem Monat.«
    Für den Schriftstellerverband waren solche Sicherheitsvorkehrungen eigentlich irrelevant, überlegte Chen, aber dieser altgedienten staatlichen Einrichtung war die Anwesenheit des Kleinen Bao und seines Registers offenbar unentbehrlich.
    »Kürzlich war ich in der Villa Moller«, sagte Chen. »Dort haben die Pförtner deutlich mehr zu tun.«
    »Das ist ja auch ein besonderes Hotel. Weiming, einer der Pförtner dort, ist mein Freund. Sein Besucherbuch ist leicht drei- bis viermal so dick wie meines«, erwiderte der Kleine Bao und kaute nachdenklich auf einem Teeblatt. »Aber ich kann mich nicht beklagen, Meister Chen. Von allen Pförtnern in der Stadt bin ich vermutlich der Einzige, der ungeniert lesen kann, ohne Ärger zu bekommen. Im Gegenteil, Sie und An haben mich sogar ermutigt, so viel wie möglich zu lesen. Immerhin arbeite ich beim Schriftstellerverband, und der hat eine eigene Bibliothek.«
    »Freut mich zu hören, dass du so gern liest.«
    »Weiming, der Pförtner im Moller, ist auch ein Bücherwurm. Deshalb leiht er sich manchmal ein Buch von mir aus, das ist einfacher als bei der öffentlichen Stadtbücherei. Und im Gegenzug besorgt er mir Coupons für die Hotelkantine. Das Essen dort ist hervorragend und preiswert. Das liegt daran, dass es vom Staat subventioniert wird und so viele Kader dort absteigen.«
    Chen erwiderte nicht gleich etwas, ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf: China als riesiges Spinnennetz, in dem jeder Faden, wie dünn und unsichtbar er auch sein mochte, in ein funktionierendes Geflecht aus Beziehungen und Verpflichtungen eingewoben war.
    »Raten Sie mal, was ich in letzter Zeit am liebsten lese, Meister Chen. Krimis. Einige davon sind sogar von Ihnen übersetzt. Das ist ein weiterer Grund, warum ich Sie mit ›Meister‹ anrede. Nicht allein wegen Ihrer literarischen Tätigkeit, sondern auch wegen der Polizeiarbeit.«
    »Ich muss unser Gespräch leider unterbrechen, Kleiner Bao. Der Tee war wirklich hervorragend«, sagte Chen und leerte seine Schale. »Aber ich muss jetzt los.«
    »Freut mich, dass Sie ihn mögen. Ich werde ihn für Sie bereithalten, wenn Sie das nächste Mal kommen.«
    Chen trat auf die Straße und ging in Richtung Shaanxi Lu. Der Tee hatte ihn ein wenig gestärkt, aber dennoch fühlte er sich deprimiert. Wie neulich ging er nun geradewegs auf das Hotel zu, drehte sich allerdings vorsichtshalber ein paarmal um.
    Ein Blumenmädchen am Straßenrand lächelte ihm einladend zu.
    »Kaufen Sie Blumen, mein Herr.« Dem Dialekt nach kam sie nicht aus Shanghai. Zu ihren Füßen stand ein Korb mit leuchtend weißen Jasminblüten.
    Geistesabwesend wählte er ein kleines, wohlriechendes Gebinde, das eigentlich fürs Knopfloch gedacht war, bezahlte und steckte es in die Tasche seines Blazers.
    Womöglich hatte Wei das Blumenmädchen mit dem Korb auf seinem Weg ins Hotel ebenfalls dort stehen sehen.
    Dass Wei an seinem letzten Morgen die Absicht hatte, in die Villa Moller zu gehen, dafür sprach auch die Mühe, die er sich mit seiner Garderobe gegeben hatte. Er wollte allein ins Hotel gehen und dort nicht als Polizist erkannt werden, eine Vorsichtsmaßnahme wegen der noch immer dort anwesenden Vertreter der Stadtregierung.
    Jetzt, wo auch noch ein Team der Zentralen Parteidisziplinarbehörde aus Peking vor Ort sein würde, musste Chen besonders vorsichtig sein, denn vermutlich waren sie nicht allein wegen Zhou hier aufgetaucht.
    Doch Spekulationen darüber, warum ein Ermittlerteam aus Peking

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