99 Särge: Roman (German Edition)
Lilis Blog .«
»Warum Lili?«
»So heiße ich, es ist der Name, den meine Eltern mir gegeben haben. Aber für eine Journalistin klingt er nicht ernsthaft genug. Deshalb nenne ich mich jetzt Lianping.«
»Ich werde ihn mir anschauen«, sagte er und trank den Kaffee aus, der bereits kalt geworden war, dann stand er auf. »Und ich werde Ihnen die Gedichte schicken, sobald ich dazukomme. Danke für alles, Lianping.«
12
Am nächsten Morgen ging Oberinspektor Chen wie gewöhnlich in sein Büro.
Seine Beraterfunktion im Fall Zhou enthob ihn nicht seiner Pflichten in der Sonderkommission, der er weiterhin nominell vorstand, obwohl Hauptwachtmeister Yu einen Großteil der Arbeit übernahm.
Er überflog einen internen Bericht und legte er ihn mit bitterem Nachgeschmack beiseite. Es ging um einen Künstler und Dissidenten namens Ai, der mit seinen Ausstellungen immer wieder Ärger provozierte, weshalb die Angelegenheit auf Chens Schreibtisch gelandet war. Chen hatte nicht vor, einen Fall daraus zu machen; nicht weil ihm Ais Kunst unbekannt gewesen wäre, sondern weil er es nicht für gerechtfertigt hielt, im Namen einer »harmonischen Gesellschaft« gegen den Künstler vorzugehen.
Obendrein fand er eine Botschaft von Parteisekretär Li vor, der ihn für zwölf Uhr zu einer Routinesitzung einbestellte, doch Chen hatte nicht vor, sich gleich bei seinem Vorgesetzten zurückzumelden. Stattdessen brütete er über den verdächtigen Umständen von Weis Tod. In Nanhui hatte man einen abgestellten braunen SUV gefunden, der tags zuvor bei einer Papierfabrik gestohlen worden war. Ein weiterer Hinweis auf einen vorsätzlich provozierten Unfall, doch leider schienen sich an dem Wagen keine besonderen Spuren zu finden. Chen hatte nach wie vor die Vermutung, dass Weis Tod mit dem Fall Zhou in Verbindung stand, war aber klug genug, dies nicht im Präsidium zu diskutieren, nicht einmal mit seinem Partner Yu. Aber er machte sich Vorwürfe, Wei bei seiner Arbeit nicht mehr unterstützt zu haben. Wieder spürte er, dass heftige Kopfschmerzen im Anzug waren.
Dann fiel ihm der Blog ein, von dem Lianping ihm erzählt hatte. Um sich abzulenken, startete er seinen Computer und gab die Adresse ein.
Was sie dort schrieb, unterschied sich stark von ihren Zeitungsartikeln. Der Titel eines kürzlich eingestellten Beitrags weckte sofort sein Interesse, er hieß »Xinghuas Tod«.
Der Shakespeare-Übersetzer und Dichter Wu Xinghua war während der Kulturrevolution ums Leben gekommen und der jüngeren Generation kaum noch bekannt. Chen fragte sich, warum Lianping ausgerechnet dieses Thema gewählt hatte.
»Der herausragende Dichter und Gelehrte Wu Xinghua hat eine Übersetzung von Shakespeares König Heinrich der Vierte vorgelegt und später eine vollständige, annotierte Werkausgabe des Dramatikers herausgegeben. Das ist auch schon alles, was die Leute heute noch über ihn wissen, sofern sie sich die Mühe machen, die Titelseite der Gesammelten Werke aufzuschlagen. Was könnte tragischer sein als eine vergessene Tragödie?
Bereits während des antijapanischen Kriegs in den 1940er Jahren wurde Xinghua von Professor Shediek an der South-west United University als einer seiner vielversprechendsten Studenten bezeichnet, ebenso begabt wie Harold Bloom. Und tatsächlich machte Xinghua sich bald mit Gedichten und Übersetzungen einen Namen, 1957 jedoch fand seine Karriere ein abruptes Ende. Er wurde in der landesweiten Anti-Rechts-Bewegung als Rechtsabweichler gebrandmarkt und auch in den nachfolgenden politischen Kampagnen immer wieder verfolgt. 1966 starb er, erst Mitte vierzig, zu Beginn der Kulturrevolution. In dem Artikel, der Ende der 1970er Jahre in einer staatlichen Zeitung über ihn erschien, blieben die Umstände seiner letzten Tage unerwähnt, man tat einfach so, als wäre er eines natürlichen Todes gestorben.
Kürzlich hatte ich Gelegenheit, mit seiner Witwe zu sprechen, die mir berichtete, was er gegen Ende seines Lebens zu erleiden hatte. Bereits zu Anfang der Kulturrevolution war er demütigenden Massenkritik-Sitzungen und Bestrafungen ausgesetzt gewesen. Seine Wohnung wurde von Rotgardisten verwüstet, das fast vollendete Manuskript seiner Übersetzung von Dantes Göttlicher Komödie auf der Straße verbrannt. In jenem Sommer musste er im Rahmen der ›ideologischen Umerziehung durch körperliche Arbeit‹ von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends in den Reisfeldern schuften. Er litt unter Hitze, Hunger und Durst, doch man gab ihm
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