99 Särge: Roman (German Edition)
weder Wasser noch etwas zu essen, erst gegen Abend gelang es ihm, aus einem schmutzigen Bach zu trinken. Ein Rotgardist sah das und war so erbost, dass er Xinghuas Kopf mehrere Minuten lang in das verunreinigte Wasser drückte. Einer seiner Genossen trat ihn unterdessen brutal in die Seite. Kurz darauf schwoll sein Bauch an, er fühlte sich elend, verlor das Bewusstsein und starb zwei Stunden später an akutem Durchfall. Dennoch behauptete der Rotgardist, es sei Selbstmord gewesen, und bestand auf einer Autopsie. Warum? Weil Selbstmord ein weiteres Indiz dafür gewesen wäre, dass Xinghua sich den wohlmeinenden erzieherischen Bemühungen der Partei aktiv widersetzt hätte. Xinghuas Familie intervenierte vergeblich. Seine Leiche wurde seziert. Der Autopsiebericht zeigte allerdings, dass er durch den Genuss verschmutzten Wassers gestorben war, was seine Familie immerhin davor bewahrte, im Nachhinein als Konterrevolutionäre etikettiert zu werden.
Warum sind die tragischen Umstände seines Todes in unseren offiziellen Medien nie erwähnt worden? Warum wurde der Rotgardist nicht zur Rechenschaft gezogen? Es heißt, jener Rotgardist, der Xinghuas Kopf unter Wasser hielt, sei der Spross einer einflussreichen Kaderfamilie gewesen. Der andere, der ihn getreten hat, stammte aus ähnlichen Verhältnissen. Man entschuldigte sie damit, dass sie leidenschaftlich an Mao geglaubt hätten. Und solange dessen Porträt noch das Tor am Platz des Himmlischen Friedens schmückt, dürfte ihnen kaum etwas geschehen. Obwohl die Kulturrevolution inzwischen offiziell als gutgemeinte Verfehlung Maos eingestuft wird, gilt bis heute das ungeschriebene Gesetz, dass man sich mit Kritik zurückhalten soll. Daher bleibt alles, was darüber geschrieben wird, vage, unvollständig und euphemistisch.
Wer erinnert sich heute noch an Xinghua?
Zufällig fiel mir ein Gedicht von ihm in die Hände. Eine Strophe darin lautet:
Sich an eine Glasscherbe klammern oder an ein Stück Holz, / um sich der Gegenwart zu versichern und nicht in der Zeit unterzugehen, / sich Halt und ein wenig Gewicht geben. / Doch in den fernen Bergen legt sich der Herbst über die Gipfel, / er hält unendliche Freuden und Kümmernisse bereit. / Auf ein Unheil folgt immer auch das Glück. Ein trauriges Gedicht, nicht nur, weil hier jemand Halt an einer Glasscherbe oder einem Stück Holz sucht, sondern auch, weil diesem Dichter entgegen seiner Hoffnung das Glück am Ende versagt blieb.«
Chen zündete sich eine Zigarette an und löschte das Streichholz mit einer heftigen Handbewegung. Diese Art von Blog sprach vermutlich keine große Leserschaft an. Die meisten Netzbürger dürften noch nie von Wu Xinghua gehört haben. Entsprechend gering war die Zahl der Klicks. Dennoch hatte Lianping gründlich recherchiert und engagiert geschrieben. Ihr Beitrag handelte nicht nur von einem Einzelschicksal während der Kulturrevolution, sie hielt der heutigen Gesellschaft den Spiegel vor.
Außerdem gefiel Chen das Gedicht, das sie am Ende ihres Artikels zitiert hatte.
Und wie war es um sein Glück als Polizist bestellt?
Er griff zum Telefon und rief Jiang im Hotel an.
Nach hartnäckigem Bohren bestätigte Jiang ihm immerhin, dass die ursprüngliche Meldung, die Zhou in Schwierigkeiten gebracht hatte, in einem Netzforum aufgetaucht war, das ein gewisser Melong betrieb. Jiang schien überrascht, dass Chen diese Information durch eigene Kanäle herausgefunden hatte.
Dann rief der Oberinspektor Lianping an.
»Ich möchte Ihnen für Ihren Beitrag über Xinghua danken. Gute Arbeit. Ein Jammer, dass ihn heute kaum noch jemand kennt.«
»Vergessen Sie nicht, dass auch ich einen Abschluss in Englischer Literatur habe.«
»Außerdem sind Sie viel im Internet unterwegs.«
»Einen Blog zu schreiben ist keine Kunst, aber auch im Netz gibt es Zensur. Ein Website-Betreiber muss einen Beitrag, der von der Netzpolizei beanstandet wird, sofort löschen. Aber glücklicherweise ist Xinghua kein Name, der von ihrem Radar gesucht wird.«
»Sie erwähnten gestern einen gewissen Melong. Stellen Sie auch bei ihm Artikel ein?«
»Sein Forum ist ziemlich beliebt, er hat mich gefragt, ob ich bei ihm veröffentlichen will, aber ich halt mich da lieber zurück. Zu kontrovers, Sie wissen schon.«
»Dann kennen Sie ihn also?«
»Nicht besonders gut. Ich bin ihm vielleicht drei- oder viermal begegnet. Aber er ist clever und erfinderisch, ein echter Nerd. Andernfalls hätte er dieses Web-Forum nicht allein auf die Beine
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