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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Jahre zum Milliardär geworden. Und wie hat er das geschafft? Angeblich weil ein hoher Kader in der Stadtregierung sich in seine Frau verguckt hat, die ebenfalls an dem Imbissstand arbeitete. Versteht sich von selbst, dass große Summen den Besitzer wechselten, nachdem die beiden im Schutz der Nacht das Spiel von Wolken und Regen gespielt hatten.«
    »Sicher kennen Sie viele derartige Fälle, Lianping.«
    »Ich bin Wirtschaftsjournalistin, und zufällig habe ich einen Freund dessen Vater Bauunternehmer ist. Durch ihn höre ich von den Manipulationen und Schwankungen bei den Grundstückspreisen, und das alles im Interesse der Partei …« Verlegen lächelnd hielt sie inne. »Entschuldigung, ich habe mich hinreißen lassen.«
    »Aber nein, ich bin Ihnen sehr dankbar für dieses Gespräch. Allerdings muss ich gestehen, dass auch ich in letzter Minute von der Wohnungsbaureform profitiert habe, indem mir ein Vierzimmerapartment als Dienstwohnung zugesprochen wurde. Man ist davon ausgegangen, dass meine Mutter zu mir ziehen würde, aber sie hat sich geweigert.«
    »Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Für einen Kader Ihres Ranges ist ein Vierzimmerapartment gar nichts. Und von ›letzter Minute‹ kann auch keine Rede sein. Erst vor einem halben Jahr wurde einem leitenden Angestellten der Wenhui eine ganze Villa mietfrei zur Verfügung gestellt – und zwar mit der Begründung, dass er bei seiner Arbeit für die Parteizeitung Ruhe brauche.«
    »Im Sozialdarwinismus sind es die Erfolgreichsten – seien es nun Geschäftsleute oder Parteisekretäre –, die sich gegenüber den Erfolglosen, also dem einfachen Volk, durchsetzen.«
    »Und? Dürfen wir die Wahrheit über solche Leute schreiben? Eben nicht! Und das ist der große Nachteil von Parteizeitungen wie der Wenhui oder der Befreiung . Sie überleben eigentlich nur dank der Pflicht-Abonnements. Das erklärt auch die wachsende Beliebtheit von Blogs im Internet. Die Zensur hat zwar ein Auge auf sie, geht dabei aber längst nicht so rigoros und effektiv vor wie bei den Printmedien.«
    »Ich war zufällig in der Gegend, weil ein Kollege von mir hier an der Kreuzung überfahren wurde«, sagte Chen nun und änderte damit abrupt das Thema.
    »Oh«, entfuhr es ihr. Er war also nicht ihretwegen gekommen – oder auch nur wegen der versprochenen Gedichte. »Die Raserei nimmt immer mehr zu.«
    Schweigend trank er von seinem Kaffee.
    »Aber eigentlich ist das verwunderlich«, setzte sie hinzu, »denn hier in der Straße fahren die Autos in der Regel langsam. An welchem Tag ist es denn passiert?«
    »Am Montag.«
    »Also deshalb …« Sie vollendete ihren Satz nicht. »Ja, ich erinnere mich, davon gehört zu haben.«
    »Hauptwachtmeister Wei ist kurz darauf im Krankenhaus gestorben.«
    »Tot? Aber das ist doch nicht möglich!« Schockiert erhob sie sich und ging zum Fenster. »Sehen Sie doch, der Verkehr quält sich im Schneckentempo hier durch.«
    Chen trat neben sie und wartete, dass sie weitersprach.
    »Das ist zwar keine Stadtautobahn, aber trotzdem staut sich hier ständig der Verkehr, manchmal geht überhaupt nichts mehr vorwärts. Im fünfzehnten Stock hört man das nicht, in meinem Büro aber schon.«
    »Weil es eine vielbefahrene Kreuzung ist?«
    »Sie können sich vorstellen, wie viele Menschen täglich zu uns ins Redaktionsgebäude kommen. Ein Großteil der Journalisten fährt mit dem eigenen Wagen, dazu kommen die Taxis der Besucher. Manchmal bildet sich eine regelrechte Taxischlange vor dem Eingang. Und dann ist da noch der Kindergarten gegenüber.«
    »Ein Kindergarten? Ja, ich erinnere mich, einen gesehen zu haben, aber was hat der mit dem Verkehrsaufkommen zu tun?«
    »Sie sollten sich einmal anschauen, was sich jeden Tag gegen halb vier hier abspielt. Es ist ein privater Kindergarten, angeblich der beste der Stadt. Er hat einen guten Ruf, eine gute Lage und eine lange Geschichte. Die jährlichen Gebühren betragen dreißigtausend Yuan, dazu kommen noch einmal zehntausend Yuan, die die Eltern als Spenden abdrücken müssen.«
    »Puh, das ist ja mehr als das Jahresgehalt eines Arbeiters.«
    »Es sind ja auch keine gewöhnlichen Eltern. Deshalb sieht man nachmittags hier immer eine lange Reihe an Wagen vorfahren. Häufig sind es gar nicht die Eltern selbst, die ihre Kinder abholen, sondern Chauffeure oder Kindermädchen. Sie warten hier in ihren Luxusschlitten auf die lieben Kleinen.«
    »Und wie sieht es zu anderen Tageszeiten aus?«
    »Auch nicht viel besser.

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