99 Särge: Roman (German Edition)
Manchmal kommen Kinder zu spät oder werden früher abgeholt. Abgesehen davon haben wir im Redaktionsgebäude jede Menge Publikumsverkehr«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. »Obendrein sind viele der Besucher einflussreiche Leute. Ein Fahrer müsste verrückt sein, würde er mit hohem Tempo durch die Weihai Lu brausen.«
»Sie meinen also, die Fahrer hier wüssten es besser«, sagte er und zog sein Notizbuch heraus.
»Das kann ich natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Ist das der Fall, an dem Sie arbeiten?«
»Nein, ich bin nur als Berater hinzugezogen worden, aber Hauptwachtmeister Wei war ein Kollege von mir.«
»Und Sie vermuten, da stimmt etwas nicht?«
»Ich habe eben erst davon erfahren, und genau wie Sie kann ich mich nur wundern, wie der Unfall direkt vor dem Gebäude passieren konnte.«
»Ich werde mich mal umhören. Vielleicht hat einer meiner Kollegen etwas gesehen oder mehr darüber erfahren. Ich sage Ihnen dann Bescheid.«
»Danke für Ihre Hilfe.«
»Ach, und ich habe ein paar Aufnahmen von der Tagung ausgedruckt.« Sie holte einen Umschlag mit Fotos hervor.
»Das hier ist ein gutes Porträt«, sagte er und deutete auf eines der Fotos. »Vielleicht kann ich es später einmal für den Waschzettel eines Buches verwenden.«
»Das wäre fantastisch.«
»Ihr Name wird selbstverständlich genannt.«
»Nicht nötig. Ich mache ständig Fotos, meist im Finanzsektor. Das ist schon Routine für mich. Ich maile Ihnen die Bilder.«
»Danke. Übrigens haben Sie mich doch damals nach dem Fall Zhou gefragt. Haben Sie vielleicht zufällig etwas von einem Foto mit einer Packung 95 Supreme Majesty gehört oder gelesen? Eine Wenhui -Journalistin ist manchmal besser informiert als ein Polizist.«
Die Frage überraschte sie nicht. Im Gegenteil, sie hätte sich gewundert, wenn er sie nicht gestellt hätte.
»Dazu muss ich Ihnen zuerst etwas erzählen, Oberinspektor Chen, etwas, das einem befreundeten Journalisten in Anhui passiert ist. Er hatte einen Artikel geschrieben, in dem er die frisierten Zahlen eines Staatsbetriebs anprangerte. Und wissen Sie, was geschah? Er wurde von der örtlichen Polizei auf die Liste gesuchter Verbrecher gesetzt, und zwar wegen Verleumdung, ungeachtet der Tatsache, dass sein Artikel gründlich recherchiert und dokumentiert war. Der Direktor der Fabrik war nämlich der Neffe des Ministers für Öffentliche Sicherheit in Peking. Noch heute muss sich dieser Journalist wegen seines angeblichen Verbrechens in einer anderen Provinz verstecken.
Ein Job bei einer Parteizeitung gilt ja gemeinhin als eine gute Stelle, allerdings nur, wenn man im richtigen Moment den Mund hält oder weghört. Zu diesem Foto von Zhou kann ein Journalist also nur das sagen, was in seiner Zeitung steht.«
»Das ist es ja, was mich irritiert«, sagte er.
»Ich bin verantwortlich für Finanzwesen und Neubauprojekte. In dieser Eigenschaft besuche ich Pressetermine wie jenen, bei dem Zhou die fragliche Rede gehalten hat, und berichte darüber, ganz gleich, ob ich dem Sachverhalt inhaltlich zustimme oder nicht. An jenem Tag aber bin ich nicht hingegangen. Und warum? Weil uns das Amt für Wohnungsbauentwicklung vorab wissen ließ, dass es einen vorformulierten Text samt Foto verschicken würde, den ich nur noch etwas blumiger formulieren müsse. Und das habe ich auch getan.
Deshalb können Ihnen Aktivisten aus der Internetszene in dieser Frage besser helfen als jemand von einem Parteiorgan wie der Wenhui «, riet sie vorsichtig. »Soweit ich gehört habe, hat die Massenermittlung in einem Web-Forum begonnen. Der Initiator war ein gewisser Melong. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Melong?«
Chens Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er den Namen schon einmal gehört hatte. Natürlich, für einen Polizeibeamten in seiner Position war diese Information wohl keine Neuigkeit, überlegte sie.
»Für Melong war die Sache mit dem Foto vielleicht anfänglich nur eine clevere Art, einen hohen Kader bloßzustellen«, fuhr sie fort. »Doch die Massenermittlung entwickelte sich weit über seine Erwartung und Vorstellung hinaus.« Dann fügte sie noch hinzu: »Vielleicht könnte ich für Sie in einschlägigen Kreisen herumfragen.«
»Das wäre eine große Hilfe, Lianping, eine Hilfe, die ich sehr zu schätzen wüsste. Was die Welt des Internets betrifft, bin ich ziemlich unbedarft.«
»Übrigens schreibe ich auch einen Blog, aber nichts Offizielles.« Sie notierte die Web-Adresse auf einem Post-it. »Er nennt sich
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