99 Särge: Roman (German Edition)
mit dieser Art von Arbeit vertraut.«
Er antwortete nicht sofort, schien aber ehrlich interessiert. Nickend nahm er einen weiteren Schluck Kaffee. »Ja, das ist ein guter Vorschlag und zudem politisch korrekt. Ich werde darüber nachdenken, Lianping. Sind Sie eigentlich schon länger für die Literaturseite zuständig?«
»Nein, erst seit einem Monat, normalerweise schreibe ich über Finanzwesen.«
»Haben Sie Betriebswirtschaft studiert?«
»Nein, Englische Literatur.«
»Ach, das ist ja interessant«, entgegnete er, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern sagte lapidar: »Finanzwesen ist heutzutage natürlich viel populärer.«
»Wie meinen Sie das, Oberinspektor Chen?«
»Wenn man einem Schriftsteller, der in den Achtzigerjahren populär war, glauben darf, dann sollte man heute lieber ein erfolgreicher Manager sein als ein Schreiberling.«
»Ach, Sie meinen Tieliang. Ich habe das Fernseh-Interview mit ihm auch gesehen. Das ist doch eine Schande! Er verdient sich eine goldene Nase mit seinen exklusiven Prominentenclubs – und das unter dem Deckmäntelchen von Literatur und Kunst.« Sie goss frisches Wasser auf ihren Tee, dann fuhr sie fort: »Und er steht nicht allein mit seiner Meinung. Sie erinnern sich sicher an den Satz aus dem Traum der roten Kammer : ›Außer den beiden Steinlöwen, die am Eingang des Jia-Anwesens kauern, gibt es nichts Reines in dieser Welt.‹«
»Heutzutage brauchen Sie nur das Jia-Anwesen gegen den Begriff Sozialismus chinesischer Prägung einzutauschen.«
»Oh, und das aus dem Mund eines Parteikaders.«
»Darf ich rauchen, Lianping?«
»Nur zu«, sagte sie und dachte, dass sie sich besser etwas zurückhalten sollte, schließlich hatte sie einen leitenden Polizeibeamten vor sich. Sie fragte sich, was er eigentlich von ihr wollte. »Ich habe gehört, Sie haben eine Gedichtsammlung veröffentlicht, die mittlerweile vergriffen ist.«
»Ja, ich dachte zunächst auch, das Buch verkauft sich wirklich gut, bis sich herausstellte, dass ein reicher Freund von mir ohne mein Wissen tausend Exemplare gekauft und als Geschenke an seine Geschäftsfreunde verteilt hat. Das war zwar gut gemeint, hat mein Selbstverständnis als Dichter aber trotzdem verletzt. Und meine Polizistenehre auch, weil ich ihm nicht gleich auf die Schliche gekommen bin. Zu meiner Verteidigung kann ich immerhin sagen, dass ich nicht die Polizeiakademie besucht habe.«
Seine subtile Selbstironie gefiel ihr. Immerhin konnte er sich selbst kritisch sehen. Jetzt war die Reihe an ihr.
»Ich habe ja auch keinen Abschluss in BWL . Aber für ein Mädchen aus Anhui bedeutet jeder Job in Shanghai eine große Chance. Und mein Englischstudium ist trotzdem nützlich. In der Finanzwelt gibt es viele Ausdrücke, die ins Chinesische übertragen werden müssen, zum Beispiel ›Hypothek‹ oder ›Option‹. Diese Begriffe hat es in unserer staatlichen Planwirtschaft vorher nicht gegeben. Deshalb hat man mir die Position bei der Wenhui angeboten.«
»Was für ein Zufall. Ich habe meinen Job als Polizist aus ganz ähnlichen Erwägungen bekommen. Ich sollte ein englisches Handbuch zur Ermittlungsarbeit übersetzen.«
»Materiell gesehen gibt es allerdings einen beträchtlichen Unterschied zwischen einem Kulturredakteur und einem Wirtschaftsjournalisten.«
»Kläre Sie mich auf, Lianping.«
»Nehmen Sie die Tagung des Schriftstellerverbands. Dort bekam ich eine Tasse Tee, und er war nicht einmal gut. Bei einer Immobilienpräsentation kann man als Journalistin ganz andere Dinge erhalten – einmal hat man mir sogar ein Laptop geschenkt.«
»Kein Wunder, dass Tieliang nicht länger schreibt«, sagte Chen, »aber Ihre Arbeit ist wichtig. Mal ganz abgesehen von der Literatur, Sie helfen den Lesern, die moderne Finanzwelt, in der sie heute leben, besser zu verstehen.«
»Allerdings müssen wir uns dabei an politische Regeln halten. Schon Zhuangzi hat gesagt: ›Wer einen Haken stiehlt, wird gehenkt; wer ein Land stielt, erhält den Ritterschlag.‹ Mein Job besteht in Wirklichkeit darin, die Praxis dieser Landnahme zu rechtfertigen.«
»Ja, in unserem Einparteiensystem galoppiert die Korruption wie ein zügelloses Pferd.«
»Und jeder weiß es, aber das heißt noch lange nicht, dass wir darüber schreiben dürfen. Nehmen Sie nur die zwielichtigen Praktiken auf dem Wohnungsmarkt. Einer der Investoren in Xujiahui, ein gewisser Tao, hat früher auf der Straße Teigtäschchen verkauft, ist aber im Verlauf der letzten drei, vier
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