99 Särge: Roman (German Edition)
innerhalb weniger Jahre zu Milliardären geworden. Hätte Chen seinerzeit auf Lu gehört und wäre in die Restaurantkette eingestiegen, die dieser aufgebaut hatte, könnte er sich heute ebenfalls zu den Schwerreichen zählen.
Aber auch so war er erfolgreich – als Oberinspektor und Parteifunktionär. Chen wollte nicht mit Leuten wie Zhou verglichen werden, doch es ließ sich nicht leugnen, dass auch er über gewisse »graue Privilegien« verfügte.
Zum Beispiel eine deutliche Reduzierung der Krankenhauskosten für seine Mutter. Während der Kulturrevolution war ihr von einem Rotgardisten der Arm gebrochen worden. Für diesen Vorfall hatte sie keinerlei Entschädigung erhalten, doch nun hatte man sie nach all den Jahren plötzlich als »behindert« eingestuft, ein Status, der ihr im Zuge der neuen Gesetzgebung Vorteile im Gesundheitssystem brachte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie ihren Reha-Aufenthalt hier verbringen durfte, in einem Zimmer ganz für sich allein.
Um ein pietätvoller Sohn zu sein, musste er sich also als loyaler Parteikader erweisen und dem System dienen, das seiner Mutter die Knochen gebrochen hatte.
Jetzt regte sich seine Mutter, schlug die Augen auf und quittierte die Anwesenheit ihres Sohnes mit einem überraschten Lächeln. Ihr Gesicht wirkte grau und geschrumpft, aber sie streckte ihm ihre ausgemergelte Hand entgegen.
»Du musst doch nicht extra herkommen. Hier geht es mir besser als in jedem Pflegeheim.«
»Wie war das Essen heute?«
»Gut. Nudeln mit Fleischstreifen und Chinakohl.«
Sie deutete auf einen Speiseplan, der auf dem Tisch lag. Offenbar hatte man hier im Gegensatz zu normalen Krankenhäusern die Auswahl zwischen verschiedenen Gerichten, ganz wie in einem kleinen feinen Restaurant. Die weichen Nudeln hatte sie vermutlich wegen ihrer Zähne gewählt. Ihr Gebiss war lückenhaft, aber in ihrem Alter wollte sie sich keiner langwierigen Zahnbehandlung mehr unterziehen.
Er stand auf und bereitete ihr einen grünen Tee mit amerikanischem Ginseng zu.
»Alle unsere Verwandten und Freunde reden nur Gutes über dich«, sagte sie liebevoll. »Ich selbst habe es längst aufgegeben, das heutige China zu verstehen. Es ist mir ein einziges Rätsel, aber ich weiß, dass du immer versuchst, das Richtige zu tun.«
»Trotzdem habe ich mich zu wenig um dich gekümmert. Deshalb möchte ich, dass du zu mir ziehst, sobald du aus dem Krankenhaus entlassen wirst. Ich könnte eine Pflegerin engagieren, die bei uns wohnt. Das ist inzwischen keine Seltenheit mehr.«
»Nein, nein, ich komme schon zurecht. Ich kann mich wirklich nicht beklagen. Würde ich heute sterben, so könnte ich die Augen in Frieden schließen. Nur über eines mache ich mir Sorgen … du weißt schon.«
Ausgerechnet zu diesem Thema hatte er ihr nichts Neues zu berichten. Bei Konfuzius heißt es: Es gibt drei Dinge, die gegen die kindliche Pietät verstoßen, aber keine Nachkommen in die Welt zu setzen, ist das Schlimmste.
»Neulich hat mich Weiße Wolke besucht«, fuhr seine Mutter unbeirrt fort. »Ein ganz reizendes Mädchen.«
»Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.«
Daran war er selbst schuld, wie er sich eingestehen musste. Den Gedanken, dass sie für Gäste des Karaoke-Clubs in Separees getanzt hatte, konnte er nicht abschütteln.
Die Blüte fällt, das Wasser rinnt, der Frühling fließt. / Die Welt hat sich verändert.
Er versuchte, die Dinge auf dem Nachtkästchen zu ordnen, als brächte er damit auch sein Leben in Ordnung. Ein Geräusch an der Tür ließ ihn aufschrecken.
»Guten Tag, Oberinspektor Chen, Schwester Liang Xia sagte mir, dass Sie da sind. Sie hätten mir Bescheid geben sollen.«
Als Chen aufblickte, sah er Doktor Hou mit großen Schritten ins Zimmer eilen, er strahlte von einem Ohr zum anderen. Hou Zidong war der Direktor des Krankenhauses, ein hochgewachsener Mann Anfang fünfzig, der über seinem schwarzen Anzug und der roten Krawatte einen weißen Arztkittel trug.
»Doktor Hou, ich danke Ihnen für alles, was Sie für meine Mutter getan haben. Aber ich weiß, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind, deshalb wollte ich Sie nicht stören.«
»Tantchen ist auf dem Weg der Besserung, keine Bange. Ich sorge schon dafür, dass sie sich bei uns wie zu Hause fühlt.«
»Ich habe dir ja schon so oft erzählt, wie gut Doktor Hou sich um mich kümmert«, stimmte seine Mutter zu, während ihr Blick stolz auf ihrem Sohn ruhte.
Chen verstand ihren Blick. Er war zu Beginn seiner
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