99 Särge: Roman (German Edition)
Szenerie.
»Die beiden Gedichte sind autobiographisch«, erklärte Chen. »Als junger Mann heiratete Lu You seine geliebte Cousine Tang Wan. Seine Mutter war gegen die Verbindung und erzwang die Scheidung. Doch die beiden blieben einander gewogen, obwohl jeder von ihnen noch einmal geheiratet hat.«
»Beide haben noch einmal geheiratet? Verbieten das nicht die Regeln der arrangierten Ehe?«
»In dem Fall nicht. Dieses neokonfuzianische Konzept hat erst in der Ming-Dynastie Verbreitung gefunden. Zu Lu Yous Zeit war es sogar noch möglich, dass auch die geschiedene Cousine ein zweites Mal heiraten konnte.
1555 begegneten sie sich dann zufällig in diesem Garten. Da beide verheiratet waren, mussten sie die Form wahren. Dennoch schenkte sie ihm eine Schale gelben Reiswein ein, die er aus ihrer zarten Hand entgegennahm, bis auf das Kräuseln des dargebotenen Weins blieb alles zwischen ihnen ungesagt. Lu You gab seiner Trauer in einem ci -Gedicht mit dem Titel ›Frühling wie vormals‹ Ausdruck, auf das Tang Wan mit einem eigenen Gedicht antwortete. Bald darauf starb sie an gebrochenem Herzen. Viele Jahre später, im Alter von fünfundsiebzig Jahren, besuchte Lu You noch einmal den Garten und schrieb die hier in Stein gemeißelten Zeilen. Die unglückliche Liebesgeschichte hat die beiden Strophen besonders populär gemacht.«
»Ach, wie traurig.«
»Oh, ich habe etwas vergessen«, Chen wandte sich abrupt um und begann, den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren. »Warten Sie im Pavillon auf mich.«
Verwundert betrat sie den Pavillon, und kurz darauf kam Chen mit zwei Schalen Reiswein zurück.
»Das ist Huang-Teng-Wein. Der gleiche, den Tang Wan in dem Gedicht Lu You anbietet.«
»Was bedeutet Huang Teng?«, fragte sie, während sie die Schale entgegennahm.
»Vermutlich ist es der Name des Ortes, wo der Wein hergestellt wird.«
Sie ließen sich im Pavillon nieder, der allerdings keine bequemen Sitzmöglichkeiten bot. Die Steinbank war schmal, kalt und hart, außerdem so hoch, dass Lianpings Beine in der Luft baumelten. Nach kurzer Zeit wurde es ihr ungemütlich, und sie zog, die Schale in der Hand, die Beine an und schlug sie unter.
Wieder versuchte sie, sich die längst vergangene Szene zu vergegenwärtigen: die beiden Liebenden hier in diesem Garten, der Pavillon, die Kiefer, die Steinbrücke – nur eben viele Jahrhunderte früher. Lu und Tang hatten sich an einem Tag wie diesem hier getroffen und vielleicht dieselbe Botschaft vernommen, die der scheidende Tag jetzt ausschickte.
»Der Garten ist inzwischen mehrmals umgestaltet worden«, sagte Chen, der schon wieder ihre Gedanken zu lesen schien. » Im Shen-Garten / sind Teich und Pavillon nicht mehr dieselben. «
Natürlich musste der Pavillon inzwischen neu aufgebaut worden sein, Säulen und Geländer waren übersät mit den Kommentaren von Touristen unserer Tage. Manche versuchten, Lu You mit sentimentalen Zeilen zu imitieren, andere hinterließen nur ihre Namen und ein rotes Herz.
»Abgedroschene Klischees«, sagte er mit leiser Verachtung in der Stimme.
»Sie haben solche Liebesgedichte ins Englische übersetzt, nicht wahr?«
»Nein, nicht ich, sondern Yang, genau wie Xinghua ein begnadeter Dichter und Übersetzer. Das Manuskript ist im Zusammenhang mit einem Mordfall in meine Hände gelangt. Er ist während der Kulturrevolution ums Leben gekommen, und seine Geliebte, eine Ex-Rotgardistin, die vor einigen Jahren ermordet wurde, hat seine Arbeiten aufbewahrt. Ich habe das Manuskript lediglich überarbeitet, ein paar Gedichtübersetzungen hinzugefügt und es einem Verleger geschickt. Er bestand darauf, meinen Namen mit abzudrucken, als politisches Feigenblatt sozusagen. Yangs Name allein hätte unangenehme Erinnerungen an die Grausamkeiten der Kulturrevolution geweckt.« Chen machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Übrigens sollten Sie sich die Shaoxing-Opernversion dieser Liebesgeschichte einmal ansehen. Meine Mutter ist begeistert davon. Ich werde ihr ein paar Postkarten mitbringen.«
»Das ist eine gute Idee. Ich meiner auch. Aber ich habe da noch eine Frage. Als die beiden sich wiederbegegneten, war Tang Wan ja nicht mehr jung und zudem verheiratet. Warum ist Lu You dennoch so ins Schwärmen geraten?«
»Eine gute Frage. In seiner Vorstellung war sie wohl immer noch dieselbe, der er beim ersten Mal begegnet war, für ihn war sie wie dieses junge …«
»Wie wer?«, entfuhr es Lianping. Sprach Chen vielleicht von Wang Feng, der
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