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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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gelebt. Sein bekanntestes Werk war das »Vorwort zu den Gedichten vom Orchideenpavillon«, eine Textsammlung, die eine Gruppe von Dichtern während eines Besuchs in diesem Park gemeinsam verfasst hatte. Das Original hatte sich nicht erhalten, wohl aber eine in Stein gehauene Kopie, die sich durch Tuscheabreibungen vervielfältigen ließ.
    »Sehen Sie sich die Nachbildungen der Gänse dort auf der Wiese an. Weiße Gänse im grünen Gras bevölkern die klassische chinesische Literatur«, bemerkte er aufgeräumt. Der Szenenwechsel tat ihm offensichtlich gut. Er sagte so etwas nicht, um sie zu beeindrucken, das hatte er nicht nötig. »Der Legende nach wurde Wangs Pinselführung von den hier herumspazierenden Gänsen inspiriert.«
    Das waren alte Geschichten, die sie wenig kümmerten, wichtiger war ihr, dass sie ihn neben sich wusste. Bald würde Xiang zurückkehren, doch im Moment schob sie den Gedanken lieber von sich.
    Trotz der Berühmtheit des Parks waren sie die Einzigen, die an dem von Bäumen und Bambus gesäumten Bach entlangspazierten. Eine Windböe schüttelte Regentropfen von dem grünen Dach.
    »Hier in Lanting haben Wang und seine Dichterfreunde sich am Bach versammelt und ihre Trinkspiele veranstaltet«, rief Chen begeistert.
    »Dichtertrinkspiele?«, fragte Lianping verblüfft.
    »Sie ließen gefüllte Weinschalen den Bach hinunterschwimmen. Vor wem die Schale anhielt, der musste ein Gedicht schreiben. Falls ihm das nicht gelang, musste er zur Strafe drei volle Schalen leertrinken. Die Gedichte wurden gesammelt, und Wang verfasste ein Vorwort dazu. Er muss dabei ganz schön betrunken gewesen sein, und sein Pinsel war von der herrlichen Landschaft inspiriert. Dieses Vorwort stellt den Höhepunkt seiner Kalligraphie dar.«
    »Es ist wirklich unglaublich.«
    »Jahrhunderte später, während der Tang-Dynastie, hat Du Mu diese Szene in einem Gedicht beschrieben:
    Wir können die dahinfließende Zeit ohnehin nicht aufhalten.
    Warum vergnügen wir uns also nicht bei einem Trinkspiel am Bach?
    Jahr um Jahr die gleiche kaltherzige Blütenpracht.
    Betrauert nicht ihr Welken, sondern ihr Erblühen.«
    »Das habe ich nie gelesen, Oberdichter Chen. Eine wunderbare Strophe, aber die letzte Zeile verstehe ich nicht ganz.«
    »Als ich das Gedicht zum ersten Mal las – da war ich etwa in Ihrem Alter –, konnte ich auch nichts damit anfangen. Inzwischen glaube ich, es zu verstehen. Das erste Aufblühen ist noch voller Träume und Hoffnungen, und doch kann man die Reise vom Blühen zum Welken nicht aufhalten. Das ist ein Grund zur Trauer.«
    Sie war beeindruckt von seiner Interpretation und versuchte, sich die schreibenden, trinkenden Poeten am Bach vorzustellen, aber es gelang ihr nicht.
    »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
    Wie schön, einen so kundigen Führer an ihrer Seite zu haben, dachte sie, während ein gelbes Seidenbanner sie auf eine ehrwürdige Halle hinwies. »Kalligraphie und Malerei – Kostenlos für alle wahren Liebhaber der Kunst«, stand über dem Eingang.
    »Kostenlos?«, las sie erstaunt. »Vielleicht praktizieren die Menschen hier in Lanting die Kunst noch um ihrer selbst willen wie in alten Zeiten. Schauen wir mal, ob wir eine Schriftrolle mit dem Gedicht finden, das Sie eben zitiert haben.«
    Sie traten ein. Der vordere Teil der Halle wurde als Ausstellungsraum genutzt; Hängerollen bedeckten die Wände, aber zu ihrer Überraschung hing an jeder ein Preisschild – die Stücke waren nicht exorbitant teuer, aber auch nicht gerade billig. Hinter einer Glastheke erhob sich ein Mann in einem langen bräunlichen Gewand und lächelte sie an. Er schien die Frage in ihren Blicken zu lesen. »Die Kalligraphien sind tatsächlich umsonst. Wir verlangen lediglich etwas für das Aufziehen.«
    »Nun ja, Schriftsteller und Maler können schließlich nicht vom Nordwestwind leben«, kommentierte Chen. »Selbst wenn man einen üblichen Verkaufspreis für alle Bilder und Kalligraphien hier berechnen würde, bekäme man für die Gesamtsumme noch nicht einmal einen Quadratmeter in der Bingjiang-Garden-Wohnanlage.«
    »Ach ja, Bingjiang-Garden in Pudong. Das Pappmaché-Haus, das die Yus im Tempel verbrannten, trug diese Adresse«, sagte Lianping.
    Aus dem rückwärtigen Teil der Halle tauchte heftig gestikulierend ein Händler auf, eilte zu ihnen und hielt ihnen ein Brokatkästchen mit Pinseln, Tusche, einem Reibestein und einem Jadesiegel unter die Nase.
    »Die vier

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