99 Särge: Roman (German Edition)
ein Stück Tofu und sagte dann: »Sollte Ihnen in der Zwischenzeit etwas zu Zhous Todesursache einfallen oder etwas, das er hinterlassen haben könnte, dann melden Sie sich bitte sofort bei mir. Sie haben ja meine Handynummer. Aber rufen Sie mich nur von einer öffentlichen Telefonzelle aus an und möglichst einer, die nicht gleich hier um die Ecke ist. Denn Sie haben recht, diese Leute sind zu allem fähig.«
20
Es Regnete Nicht, es goss, stellte Lianping fest, während sie in einem Shaoxinger Taxi saß und nachdenklich mit ihrem Mobiltelefon spielte. Sie befand sich auf dem Weg zum Lanting-Park, wo sie Oberinspektor Chen treffen wollte, und hatte eben einen unerwarteten Anruf von Xiang erhalten.
Xiang war ohne Erklärung aus Shanghai verschwunden und hatte sich fast zwei Wochen nicht bei ihr gemeldet. Angeblich, weil er so beschäftigt war, nicht nur tagsüber, sondern bis spät in die Nacht. Es war typisch für den Sozialismus chinesischer Prägung, dass viele Geschäfte am Esstisch abgeschlossen wurden, in Karaoke-Bars oder Massagesalons. Sie fragte nicht und sie protestierte nicht. Für einen jungen Mann aus der »wohlhabenden zweiten Generation« galt dies als normales Geschäftsgebaren.
Der Grund, warum er sie nun schließlich doch anrief, war der Abschluss eines für die Zukunft des Unternehmens entscheidenden Geschäfts, den er mit ihr feiern wollte. Er hatte noch hinzugefügt, dass er eine Überraschung für sie habe, wenn er Anfang nächster Woche nach Shanghai zurückkomme.
Wieder musste sie an eines der Tang-Gedichte aus der von Chen zusammengestellten Anthologie denken.
Wie oft hat er mich versetzt,
dieser geschäftige Kaufmann aus Qutang,
seit ich ihm das Jawort gab!
Die Gezeiten halten Wort
und kehren immer wieder zurück.
Hätt’ ich’s geahnt, so hätt’ ich
einen jungen Gezeitenritter mir zum Mann gewählt.
Auch der Anruf von Chen war unerwartet gekommen. Der Oberinspektor war ebenfalls andauernd beschäftigt, dennoch waren sie sich in der vergangenen Woche mehrfach begegnet. Das hatte jedoch, so sagte sie sich, berufliche Gründe. Nun aber war er ihrer spontanen Einladung doch gefolgt und überraschenderweise in Shaoxing aufgetaucht, auch wenn er den Hauptteil der Konferenz, die Vorträge in der Lu-Xun-Residenz, bereits verpasst hatte.
War das Absicht? Sie selbst musste anwesend sein, weil sie darüber berichten würde, aber er wollte seine Zeit offenbar nicht mit hohlen politischen Phrasen vergeuden. Im Gegensatz zu ihr musste er sich keine Gedanken um Reisekosten machen. Es wäre also durchaus möglich, dass er ihretwegen gekommen war, überlegte sie.
Das Taxi bog in eine malerische Gasse ein. Sie sah Chen am Parkeingang stehen, von wo er ihr mit zwei Eintrittskarten in der Hand zuwinkte. Wie sie seine Anwesenheit in Shaoxing auch immer deuten sollte, da stand er jedenfalls und erwartete sie, das allein zählte.
Er kam zum Taxi und öffnete ihr die Wagentür.
»Ich wollte Sie überraschen, Lianping.«
»Das ist Ihnen gelungen. Ich dachte, Sie hätten mich längst vergessen.«
»Aber nein.«
»Sie hatten doch sicher andere Pläne.« Fragend zog sie die Augenbrauen hoch, doch er antwortete nicht gleich.
»Jedenfalls haben wir jetzt den Nachmittag für uns«, meinte er schließlich. »Vielleicht können wir später so ein Boot mit schwarzer Plane mieten, wie es in Lu Xuns Geschichten vorkommt, und dem Sonnenuntergang entgegenfahren.«
Ihr fiel dazu zwar keine passende Geschichte des Schriftstellers ein, aber das war ihr im Moment egal, es genügte, ihn an ihrer Seite zu haben.
»Leider habe ich die Veranstaltungen am Vormittag verpasst«, sagte er.
»Kein großer Verlust. Sie wissen ja, wie langweilig solche Vorträge sein können«, erwiderte sie.
Als Chen die Eintrittskarten in die grüne Plastikbox fallen ließ, winkte der alte Parkwächter am Eingang sie durch, ohne von seiner Lokalzeitung aufzublicken. Für ihn waren sie nur ein weiteres Touristenpärchen, das an diesem regnerischen Nachmittag im Park Zerstreuung suchte.
Der Park entsprach genau der Vorstellung, die Lianping sich davon gemacht hatte. Pavillons mit gewölbten Dachvorsprüngen standen auf Hügelkuppen, weiße Steinbrücken überspannten grüne Wasserläufe, dazwischen dehnten sich smaragdgrüne Bambushaine, in denen die Geister der Geschichte wisperten.
Wang Xizi, ein berühmter Kalligraph, der auch als Heiliger der Schreibkunst verehrt wurde, hatte während der Jin-Dynastie im 4. Jahrhundert in Shaoxing
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