99 Särge: Roman (German Edition)
ehemaligen Wenhui -Journalistin, mit der er einmal zusammen gewesen war? Vor nicht allzu langer Zeit war sie nach Shanghai zurückgekehrt. Die beiden konnten sich inzwischen getroffen haben.
»Ach, nur jemand, dem ich heute Morgen begegnet bin«, dann korrigierte er sich: »Jemand, dem ich heute Morgen zum ersten Mal begegnet bin.«
In der Stille, die folgte, bemerkten sie, dass der Nieselregen nachgelassen hatte. Irgendwo im nass funkelnden Laub zwitscherte ein Vogel. Also keine, die er schon länger kannte, überlegte Lianping. Aber wer? Vermutlich hatte es mit seinen Ermittlungen zu tun.
War er tatsächlich ihretwegen gekommen? Oder gab es noch andere Gründe? Rasch vertrieb sie den Gedanken; wenn er sich dazu äußern wollte, würde er es tun.
»Ich habe eine Befragung für die laufenden Ermittlungen durchgeführt.«
Eine Welle der Enttäuschung überkam sie, aber auch eine gewisse Erleichterung. Dann war er also doch nicht wegen ihr oder aufgrund ihrer Einladung gekommen.
Eilig zog er sein klingelndes Handy heraus. »Entschuldigen Sie, ich muss den Anruf annehmen. Ein Arzt aus dem Ostchina-Krankenhaus, es ist dringend …«
»Nur zu.«
Er hob das Handy ans Ohr, trat ein paar Schritte aus dem Pavillon heraus und lauschte mit gerunzelten Brauen. Es war schwierig, den Inhalt aus den wenigen Gesprächsfetzen zusammenzusetzen, die sie mitbekam. Außer »ja« und »nein« oder knappen, unzusammenhängenden Worten sagte er kaum etwas.
Während er mit dem Arzt sprach, wandte sie sich den fernen Bergen zu. Dort wogte der Nebel wie auf einem traditionellen Landschaftsbild, in dessen Komposition gerade die freien Stellen Spannung erzeugten.
Schließlich kam Chen zurück, legte ihr geistesabwesend eine Hand auf die Schulter und blickte ebenfalls ins Weite.
»Alles in Ordnung mit Ihrer Mutter?«
»Ihr geht es gut. Der Arzt hat etwas anderes mit mir besprochen.« Dann wechselte er abrupt das Thema. »Vielleicht zeigen wir uns besser noch ein bisschen beim Literaturfest. Wenigstens zum Abendessen. Sonst beklagen sich die Leute womöglich über den Inspektor.«
»Ganz wie Sie wollen, Oberinspektor Chen.«
»Zum Mittagessen hatte ich einen ausgezeichneten Shao-xing-Wein, mild und süß, dazu ein Schälchen Erbsen, die mit Anis aromatisiert waren, genau wie Kong Yiji in Lu Xuns Erzählung. Dann dürfte das Abendessen wohl auch nicht schlecht sein.«
»Sie können den Polizisten in sich wirklich nicht verleugnen, Oberinspektor«, sagte sie, ohne die Ironie in ihrer Stimme zu verbergen. »Stets halten Sie sich bedeckt und lassen doch keine Gelegenheit aus, das Leben zu genießen.«
Ob er diese Äußerung als Kompliment auffasste oder anders deutete, vermochte sie nicht zu sagen. Ihr Beisammensein in diesem verwunschenen Garten war jedenfalls zu Ende.
Er half ihr auf die Füße.
Rutschig und mit Moos überwachsen lag der Pfad vor ihnen. Hinter sich vernahmen sie ein leises, aber deutliches Geräusch. Es konnte das Platzen der Luftbläschen sein, die von den Fischen am Grund des Teichs aufstiegen.
21
Am nächsten Morgen kehrte Chen nach Shanghai zurück. Zu Hause überprüfte er als Erstes seine Mails. Diesmal fand er die erwartete Antwort des Genossen Zhao, dem pensionierten Sekretär der Zentralen Parteidisziplinarbehörde.
»Danke für Ihre Mail. Für einen pensionierten Kader meines Alters befinde ich mich wohl und habe mich weitgehend aus dem Geschehen zurückgezogen. In letzter Zeit habe ich Wang Yangming gelesen. Da Ihr Vater Neokonfuzianer war, dürften Sie mit dem Werk dieses Philosophen vertraut sein. Eines seiner Jugendgedichte gefällt mir besonders:
Die nahen Berge lassen den Mond klein erscheinen, / man könnte sie also für größer halten als den Mond. / Sieht man die Berge jedoch am fernen Horizont, / dann wirken sie winzig unter dem großartigen Mond. Bei der Lektüre habe ich an Sie gedacht. Auch Sie sollten den Blick bis zum fernen Horizont schweifen lassen.
Was die Delegation betrifft, nach der Sie mich fragten, so kann ich dazu nichts sagen. Als erfahrener Polizist sind Sie selbst in der Lage, das einzuschätzen. In Ihrem Alter hatte Wang Yangming bereits eine für das Wohl seines Landes entscheidende Position inne.«
Diese Botschaft gab Rätsel auf. Dass Genosse Zhao sich nicht zu der Delegation aus Peking äußerte, überraschte Chen nicht, dass der pensionierte Parteiführer in seinen E-Mails Gedichte zitierte, war jedoch ungewöhnlich.
Trotz der philosophischen Ausrichtung seines
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