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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Vaters kannte Chen sich mit Wang Yangming nicht besonders aus. Er wusste nur, dass der bedeutende konfuzianische Philosoph aus dem 16. Jahrhundert das Konzept der »Einsicht« vertreten hatte; er war überzeugt, dass jeder Mensch von Geburt an intuitiv und ohne rationales Wissen den Unterschied zwischen Gut und Böse kennt.
    Chen verbrachte einige Zeit damit, im Internet über Wang Yangming zu recherchieren. Er war einer der wenigen, der das konfuzianische Ideal, Gelehrter und Beamter zugleich zu sein, verwirklichen konnte, als man ihn zum Gouverneur der Provinz Jiangxi ernannte. 1519 schlug er erfolgreich den Aufstand unter der Führung des Prinzen Zhu Chenhao nieder und bewahrte die Dynastie vor einer großen Katastrophe.
    Es war also durchaus schmeichelhaft für Chen, mit Wang Yangming verglichen zu werden. Aber warum gerade jetzt?
    Das Gedicht machte keinen besonderen Eindruck auf ihn. Wang Yangming hatte sich weniger als Dichter denn als Philosoph einen Namen gemacht. Allerdings gab ihm der Kontext, in dem Zhao es zitiert hatte, zu denken. Hier musste die Antwort liegen.
    Zhao um eine schriftliche Erläuterung zu bitten wäre sinnlos.
    Wenn die Sonne von ziehenden Wolken verdunkelt wird, / fürchte ich, die Hauptstadt Chang’an nicht sehen zu können .
    Chen griff zum Hörer, überlegte einen Moment und wählte dann die Nummer des Kleinen Bao beim Schriftstellerverband.
    »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten, Bao.«
    »Alles, was in meiner Macht steht, Meister Chen.«
    »Sie haben doch einen Freund, der in der Villa Moller arbeitet.«
    »Ja, einen guten sogar. Heute gehe ich zum Essen in die Hotelkantine, da treffe ich ihn.«
    »Könnten Sie mir die Kopie einiger Seiten aus dem Hotelregister von Haus B besorgen? Und zwar vom vergangenen Montag und Dienstag.«
    »Das dürfte kein Problem sein. Er arbeitet in Haus B. Manchmal sitzt er auch am Empfang. Ich rufe Sie an, sobald ich die Kopien habe.«
    Am Nachmittag hatte Chen eine Verabredung mit Leutnant Sheng von der Inneren Sicherheit. Sheng hatte ihn in das City Hotel gebeten, in dem er abgestiegen war. Es lag gegenüber der Villa Moller ebenfalls an der Shaanxi Lu. Vielleicht war das Zufall, aber als Polizist glaubte Chen nicht an Zufälle.
    Die Einladung war überraschend gekommen. Chen hatte zwar schon einige Male mit der Inneren Sicherheit zu tun gehabt, stand mit dieser Institution aber keineswegs auf gutem Fuß. Seine Integrität als Polizist war ihm wichtiger.
    Die Staatssicherheit hatte andere Prioritäten, dort standen eindeutig die Interessen der Partei im Vordergrund. Und für diese Interessen tat man so ziemlich alles.
    Warum wollten sie ausgerechnet jetzt mit ihm sprechen?
    Als Chen im Hotel anlangte, brachte man ihn sofort zu Sheng.
    Der Leutnant war ein großgewachsener Mann Anfang vierzig. Seine Geheimratsecken wurden durch die breite, gefurchte Stirn noch betont. Er sprach mit starkem Peking-Dialekt, ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass er aus der Hauptstadt kam.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Oberinspektor Chen. Wir hatten schon am Telefon das Vergnügen.«
    »Ganz meinerseits, Leutnant Sheng. Sie wurden eigens aus Peking entsandt, wie ich höre.«
    »Ach, das hat nichts zu bedeuten, vermutlich weil ich ein paar Computer-Abendkurse belegt habe.«
    »So etwas ist sehr wichtig in der heutigen Zeit.«
    »Ihnen als erfahrenem Polizeibeamten brauche ich nichts vorzumachen«, sagte Sheng. »Ich bin wegen des Falls Zhou hier, aber wir verfolgen einen anderen Aspekt. Sie wissen ja, wie die Sache angefangen hat: eine Menschenfleischsuche in einem Web-Forum, die dann in eine Massenermittlung ausartete. Diese Hexenjagden im Internet geraten immer öfter außer Kontrolle und gefährden das öffentliche Bild von Partei und Regierung. Den Bloggern und Forennutzern ist jeder Vorwand recht – und sei es nur eine Schachtel teure Zigaretten –, um ihren Frust und ihre Wut gegenüber der Parteiführung auszulassen. Wenn das so weitergeht, ist die Stabilität unseres sozialistischen Staates bedroht.«
    Chen hörte zu, ohne etwas zu erwidern. Über Motive ließ sich leicht spekulieren, ganz gleich ob bei Mord oder Ermittlungen anderer Art; für die Innere Sicherheit war das Motiv für die Massenermittlung im Fall Zhou jedenfalls offensichtlich.
    Jiang, der die Ermittlungsgruppe der Stadtregierung leitete, schien in eine ähnliche Richtung zu steuern. Eigentlich hätte Sheng besser mit Jiang reden sollen.
    »Und was gedenken Sie zu tun?« Chen

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