99 Särge: Roman (German Edition)
wollte eine Konfrontation vermeiden.
»Wir werden den Unruhestifter dingfest machen, der das Foto mit den 95 Supreme Majesty als Erster ins Netz gestellt hat. Was Zhou anbelangt, so hat er seine Strafe bekommen, ganz gleich wofür.«
»Aber das dürfte Ihnen doch nicht schwerfallen bei all den Internetexperten, die für die Regierung arbeiten.«
»So leicht ist das auch wieder nicht. Als Quelle konnten wir ein Web-Forum ausmachen, aber der Betreiber behauptet, dass ihm das Foto anonym zugesandt wurde.«
»Ich bin kein Computerfachmann«, erwiderte Chen, der sich absichtlich dumm stellte, »aber ich nehme mal an, dass man die IP -Adresse feststellen kann, von der das Foto geschickt wurde.«
»Ja, aber es wurde von einem Rechner in einem Internetcafé namens Fliegendes Pferd geschickt, und zwar auf so raffinierte Weise, dass wir trotz der neuen Bestimmungen die Quelle nicht zurückverfolgen können. Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass es sich um einen vorsätzlichen Angriff handelte.«
Chen wusste nicht, wovon Sheng sprach, offenbar meinte er die Ausweispflicht. Es war keine Neuigkeit, dass die Regierung die Kontrolle des Internets ständig verschärfte, und dafür war die Innere Sicherheit zuständig.
»Verstehe, der Absender ist offenbar vorsichtig gewesen. Kontroversen um die Internetkontrolle gibt es ja schon geraume Zeit«, erwiderte Chen, ebenfalls vorsichtig.
»Aber bedenken Sie, was anschließend geschah. In null Komma nichts sind jede Menge Bilder und Kommentare im Netz aufgetaucht. Ein regelrechter Blitzkrieg. Alles wohlkalkuliert und orchestriert.«
Mit der Inneren Sicherheit konnte man nicht diskutieren, also hielt Chen lieber den Mund.
»Wir sollten einander helfen, Oberinspektor Chen. Wenn ich auf irgendetwas stoße, was Ihre Ermittlungen weiterbringen kann, lasse ich es Sie sofort wissen.«
»Ich meinerseits natürlich auch«, bestätigte Chen prompt, obwohl er sich da nicht so sicher war. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Sheng ihn aushorchen wollte, aber zu diesem Spiel gehörten zwei.
Die Unterhaltung verlief ohne wahrnehmbare Animositäten, wenngleich jeder der beiden seine eigene Agenda hatte, die er vor dem anderen zu verheimlichen suchte.
Durch das hohe Fenster, das auf die Shaanxi Lu hinausging, konnte Chen einen Teil des Hotels gegenüber erkennen. Wie so oft in dieser Gegend war der Verkehr wieder einmal zum totalen Stillstand gekommen.
»Gibt es von Ihrer Seite irgendetwas Neues, Oberinspektor Chen?« Endlich kam Sheng auf den Punkt.
»Ich kann nur sagen, dass ich mir vorkomme wie der sprichwörtliche blinde Reiter auf dem blinden Pferd, der in dunkler Nacht auf einen unergründlichen See zureitet«, antwortete Chen.
»Na, na, als gefeierter Dichter neigen Sie zu poetischen Übertreibungen.«
Aber Chen hatte gar nicht übertrieben, die Metapher traf nicht nur auf ihn, sondern auch auf die anderen Ermittler zu. Das Sprichwort war ihm gestern Abend eingefallen, als er schlaflos in seinem Hotelzimmer in Shaoxing gelegen und auf die wechselnden Muster an der Decke gestarrt hatte. Und dann noch einmal heute Morgen, als er die E-Mail des Genossen Zhao las.
Sheng zündete eine Zigarette für Chen und eine für sich selbst an, bevor er sich einem anderen Thema zuwandte. »Wie war Ihr Ausflug nach Shaoxing?«
»Ach, Sie meinen das Literaturfestival. Shaoxing ist die Geburtsstadt Lu Xuns«, sagte Chen, sofort in höchster Alarmbereitschaft. »Die Innere Sicherheit ist ja gut informiert.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe mich gestern nur zufällig mit Parteisekretär Li unterhalten, er hat mir von Ihrem Besuch dort erzählt.«
Das war natürlich möglich. Dennoch ließ Chens Wachsamkeit nicht nach. Vermutlich hatte Li die Innere Sicherheit über jeden seiner Schritte informiert.
»Das Festival diente einigen Schriftstellern als Vorwand für Besichtigungen und viele gute Mahlzeiten. Der Reiswein dort ist wirklich ausgezeichnet. Leider habe ich ein bisschen zu viel erwischt. Bi Liangpei, der Vorsitzende der Sektion Shaoxing des Schriftstellerverbands, musste mich ins Hotel bringen.«
Bi Liangpei hatte ihn tatsächlich begleitet, aber Chen war nicht betrunken gewesen. Er wusste noch genau, dass er, in Erinnerung an den Nachmittag im Shen-Garten, Lianping im dunklen, vom Zirpen der Zikaden erfüllten Hotelgarten gesucht hatte. Aber ihr Schlüssel hing an der Rezeption. Chen hatte sich gefragt, ob sie mit dem Nachtzug nach Shanghai zurückgekehrt war.
»Da wäre ich
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