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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Schätze unserer traditionellen Kultur, erfüllt mit dem besonderen Feng-Shui dieser kunstsinnigen Stadt. Ein Muss für einen Gelehrten und seine Schöne«, pries der Händler seine Ware an.
    Rasch ergriffen sie die Flucht.
    »Das ist ja noch kommerzieller, als ich befürchtet hatte«, sagte Liangping mit Bedauern in der Stimme, obgleich ihr die Anspielung auf den Gelehrten und die Schöne durchaus gefallen hatte, ein Topos, der in keinem klassischen Roman fehlen durfte.
    »Shaoxing liegt zu nahe an Shanghai. Tagesausflügler wie wir bringen kein Geld in die Stadt. Grüne Matten, so weit das Auge reicht. «
    Vermutlich spielte Chen mit diesem Zitat auf das allgegenwärtige Geschäftemachen in dieser Stadt an. Aber dafür musste man kein Tang-Gedicht bemühen. Er kam ihr tatsächlich wie einer jener überschwänglichen Gelehrten aus den klassischen Liebesromanen vor, der ein junges Mädchen mit Anspielungen und Zitaten beeindrucken will.
    »Gehen wir in den Shen-Garten«, schlug er vor. »Vielleicht ist es dort ruhiger und nicht so kommerziell.«
    »Es dürfte nicht weit sein«, sagte sie, als sie den Park verließen, »aber ich weiß nicht, wie man hinkommt.«
    Ein Taxi war nicht in Sicht, aber als eine dreirädrige Fahrradrikscha vorbeikam, stiegen sie kurzerhand ein. Die Sitzfläche bot kaum Platz für sie beide, sie saßen dicht aneinandergedrängt.
    Wieder setzte der Nieselregen ein. Chen zog das Verdeck hoch, und die Plane umgab sie wie ein Kokon. Sie betrachteten die vorbeiziehende Landschaft wie durch einen transparenten Vorhang, einen schimmernden Regenschleier.
    »Das beste Verkehrsmittel für die Besichtigung einer alten Stadt«, sagte der Rikschafahrer und suchte sich seinen Weg durch Gassen mit pittoresken weißgetünchten Häusern unter grauen Ziegeldächern. »Wenn Sie mich für einen halben Tag mieten, wird es deutlich billiger. Ich könnte Sie zum Ostsee und zum Da-Yu-Mausoleum bringen. Alles für lächerliche hundert Yuan.«
    »Da-Yu-Mausoleum?«
    »Es ist dem legendären Kaiser geweiht, der die Flut zurückgedrängt hat. Das Bauwerk ist riesig, fast so groß wie ein Palast, und wurde erst kürzlich errichtet.«
    Lianping wusste zwar, wer der legendäre Kaiser Yu gewesen war, hatte aber noch nie von einer Verbindung dieser Sagengestalt mit Shaoxing gehört. In den letzten Jahren hatten manche Städte einfach Tempel und Paläste errichtet, um Touristen anzulocken. Die Geschichten dazu waren frei erfunden.
    »Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit«, entschied Chen für sie beide.
    Sie stiegen aus und kauften Eintrittskarten für den Shen-Garten. Durch das Eingangstor sahen sie, dass sich um diese Zeit kaum jemand dort aufhielt.
    Die Anlage war kleiner, als Lianping erwartet hatte, besaß aber alles, was ein typischer Landschaftsgarten im Süden zu bieten hat: karmesinrote Pavillons, Steinbrücken, phantastisch geformte Felsgrotten und Bambushaine; eine Form der kultivierten Natur, wie die Literaten der Ming- und Qing-Dynastie sie schätzten. Gleich neben dem Eingang entdeckte sie eine Tafel mit einer historischen Einführung, die sich ganz der Song-zeitlichen Liebesgeschichte zwischen Lu You und Tang Wan widmete.
    Das entsprach dem Geschmack der Touristen, die vielleicht das eine oder andere romantische Gedicht kannten, das Lu You in Verbindung mit diesem Garten verfasst hatte. Es gab sogar eine Shaoxing-Oper, die von diesem Paar handelte, das wusste Lianping von ihrer Mutter, die eine Verehrerin dieses Gesangsstils war. Sie selbst hatte das Stück noch nicht gesehen.
    Die beiden folgten den Windungen des moosbewachsenen Weges, passierten einen einsamen Stand, an dem der bekannte lokale Reiswein ausgeschenkt wurde, und gelangten zu einem Pavillon. Daneben stand ein großer ovaler Stein in dessen glatte Vorderseite zwei Strophen eingraviert und mit roter Farbe gefasst waren.
    I.
Die Sonne versinkt hinter der Stadtmauer
zu den traurigen Klängen des Horns.
Im Shen-Garten
sind Teich und Pavillon nicht mehr dieselben.
Nur noch die herzzerbrechenden Frühlingswellen,
grün unter der Brücke, die einst von ihrer Ankunft
kündeten,
so leichtfüßig und von solcher Schönheit,
dass die Wildgänse beschämt aufflogen.
    II.
Vierzig Jahre sind es, seit wir uns trafen,
der Traum ist vorbei, der Duft entschwunden,
die alten Weiden im Shen-Garten bringen
keine Weidenkätzchen mehr hervor.
Ich bin alt und werde
bald in den Staub des Ji-Bergs eingehen,
doch vergieße ich eine Träne
angesichts der alten

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