Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
Vom Netzwerk:
verlauten ließ, hatte man ihn ein für alle Mal zum Schweigen gebracht. Aber ohne das Beweisstück, das er hinterlassen hatte, konnten sie weiterhin nicht ruhig schlafen. Jetzt, wo auch noch eine Ermittlungsgruppe aus Peking vor Ort war und das Finale eines Machtkampfes in der Verbotenen Stadt unmittelbar bevorstand, würden sie umso verzweifelter danach suchen.
    Die Plastikstücke, die Fang an jenem Morgen in der Asche gesehen hatte, konnten die Überreste eines Butantanks sein oder Splitter von der Kappe eines Memory-Sticks.
    Chen wollte sich den Inhalt lieber nicht hier in Zhous Büro ansehen. Er musste rasch verschwinden.
    Zum Glück begegnete ihm weder im Korridor noch im Aufzug jemand. Ungesehen durchschritt er die Lobby und nickte dem Wachmann an der Tür nur kurz zu.
    Draußen auf dem Volksplatz war es überraschend warm. Chen brach der Schweiß aus.
    Wie gewöhnlich war hier auch um diese Tageszeit noch viel los. Mehrere Gruppen älterer Menschen machten Übungen oder tanzten zu Musik aus Ghetto-Blastern, die am Boden standen. Sie genossen den stimmungsvollen Sonnenuntergang, der das Gebäude der Stadtregierung in romantisches Zwielicht tauchte.
    Vor dem imposanten Bauwerk wartete geduldig eine Reihe von Limousinen.
    In einer Ecke stand eine einsame Gestalt und klickte geistesabwesend mit einem Feuerzeug.

23
    Oberinspektor Chen wusste genau, dass er sich an einem kritischen Punkt der Ermittlungen befand und eine Entscheidung treffen musste.
    Doch stattdessen beschloss er, seine Mutter zu besuchen. Trotz der Dringlichkeit der Lage wollte er wenigstens für kurze Zeit die verwirrenden widersprüchlichen Gedanken verdrängen, die ihn plagten. Das würde womöglich sein letzter Fall sein, denn diesmal waren die Betroffenen weitaus mächtiger und einflussreicher, als es dem Oberinspektor lieb war. Dieses Gefühl verstärkte sich angesichts der Informationen, die er während der letzten Tage erhalten hatte, vor allem bei dem Gespräch mit Sheng. Paradoxerweise schien sich das Szenario, das er für den Leutnant der Inneren Sicherheit ausgesponnen hatte, tatsächlich zu bewahrheiten.
    Ganz gleich, was der Memory-Stick enthielt, der Oberinspektor würde diese Informationen nicht nutzen. Niemand wusste von seiner Entdeckung in Zhous Büro. Außerdem hatte Chen bei diesen Ermittlungen lediglich Beraterstatus, man erwartete also keinen Durchbruch von ihm. Und was immer die verschlüsselte Botschaft des Gedichts gewesen war, Chen war nicht in geheimer Mission für den Genossen Zhao unterwegs. Der Machtkampf in der Verbotenen Stadt lag außerhalb seiner Reichweite und seiner Interessen. Er konnte sich auf die Rolle eines ganz gewöhnlichen Polizeibeamten zurückziehen.
    Doch Chen war sich nicht sicher, ob ihm das gelingen würde. Würde man ihn in der Position eines Oberinspektors belassen?
    Andererseits könnte er den Memory-Stick auch an seine unmittelbaren Vorgesetzten weitergeben, wie ein loyales Parteimitglied das tun würde. Doch bei dem Gedanken an die möglichen Folgen überlief ihn unwillkürlich ein Schaudern.
    Für Frühsommer war das Wetter ungewöhnlich warm. Als Chen aufblickte, bemerkte er einen blühenden Aprikosenzweig, der in der Zuzhou Lu über eine weiße Gartenmauer ragte und in der Brise leicht zitterte.
    Chen fehlten die nötigen Informationen, um die Lage zu analysieren. Wieder kam ihm das Bild vom blinden Reiter auf dem blinden Pferd in dunkler Nacht am tiefen See in den Sinn. Jede seiner Handlungen konnte ihn selbst in eine ähnlich prekäre Situation bringen. Schlimmer noch, sie konnte politische Konsequenzen haben, die weit über seinen Einfluss hinausgingen und denen er nicht gewachsen war.
    Und selbst wenn er tat, was von einem Oberinspektor in seiner Situation erwartet wurde, wären die Folgen für diejenigen, die ihm lieb und teuer waren – allen voran seine kranke alte Mutter –, nicht abzuschätzen.
    Auf dem Weg durch sein altes Wohnquartier überlegte er, dass sich auch diese Gegend zwar verändert hatte, aber längst nicht so einschneidend wie das übrige Shanghai. Hier waren lediglich ein paar neue Imbissstände, Restaurants und 24-Stunden-Läden eröffnet worden. Unweit der Jiujiang Lu forderte eine neue Anschlagtafel am Eingang einer Gasse dazu auf, eine »harmonische Gesellschaft« aufzubauen.
    Eine weitere Erinnerung daran, dass seine Aufgabe als Parteimitglied und Polizist vor allem in der Schadensbegrenzung bestand. Wie regelmäßig in der Volkszeitung zu lesen war, stand

Weitere Kostenlose Bücher