AAA - Das Manifest der Macht
gespanntes Schweigen mehr, sondern stilles Einverständnis.
John löste seinen Sicherheitsgurt und drehte sich auf dem Sitz nach hinten.
„Ben, aufwachen, wir sind da!“, rief er, was Ben einen letzten erschreckten Schnarcher entlockte, bevor er die Augen aufschlug und, noch etwas geblendet vom hellen Tageslicht, durch die Seitenscheibe blickte.
„Tatsächlich!“, stellte er überrascht fest. „Das ging ja schnell! Habe ich irgendwas verpasst?“
Samantha und John tauschten einen kurzen Blick aus.
„Überhaupt nichts“, sagte John.
Wie so oft in den letzten Tagen saß Guy de Levigne in der Stube am Esstisch und dachte nach. Es war später Abend, seine Frau schlief längst. Eine Kerze warf ihr Licht auf die Tischplatte. Er starrte in die Flamme, als könne er dort eine Erleuchtung finden. Es musste eine Lösung her, mit der er und vor allem seine Familie leben konnten, doch sein Kopf war leer. Übermüdet wie er war, schweiften seine Gedanken zu dem Tag, an dem er ihn kennengelernt hatte. Ihn, mit dem alles seinen Anfang genommen hatte.
Vor nicht allzu langer Zeit war Guy zu einem exklusiven Fest in die prachtvolle Villa seines Verlegers eingeladen worden. Hell erleuchtet lag das Gebäude in einem riesigen Park, umgeben von Bäumen, Rasenanlagen und prachtvollen Rosenbeeten. Als einfacher Journalist fühlte sich Guy sehr geehrt, dass sein einflussreicher Chef ihn persönlich zu diesem Fest eingeladen hatte. Pünktlich traf er am Abend in der herrschaftlichen Residenz ein, wo bereits etliche Herren der hohen Pariser Gesellschaft versammelt waren. Gekleidet in dunkle Anzüge standen sie im Salon, rauchten Pfeife, tranken Scotch und unterhielten sich über Frauen, Gott und die Welt und vor allem über Politik.
Nachdem der Gastgeber ihn freundlich begrüßt und Guy sich für die Einladung bedankt hatte, mischte er sich, inzwischen einigermaßen entspannt, unter die Gäste. Es dauerte nicht lange, und Guy wurde auf einen Mann aufmerksam, der von einer recht zahlreichen Zuhörerschaft umringt war. Elegant gekleidet, fiel er jedoch besonders durch seine üppige Bart- und Haartracht auf. Ruhig und seiner selbst gewiss sprach er unterhaltsam über ernste Angelegenheiten, fasste die politische Situation in griffige Thesen zusammen und scheute sich nicht, unangenehme Wahrheiten über gesellschaftliche Missstände offen auszusprechen.
Guy erstarrte. Hatte er doch von einem Mann gehört, dessen Thesen ihm aus der Seele sprachen. Zwar waren die Ideen nicht gänzlich neu, doch spätestens seit dem Ende der Pariser Kommune wurde derlei Gedankengut nicht mehr offen diskutiert. Er hätte jedenfalls nicht den Mut besessen, so deutlich für die Rechte der Mittellosen einzutreten. Die Situation im Land war nach den teils dramatischen politischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte noch keineswegs stabil. Die Französische Republik war noch zu jung, sie hatte genug zu tun mit massiven innenpolitischen Auseinandersetzungen und großen Problemen in den Kolonien, um schon wieder Grundsätzliches in Frage zu stellen. Zudem hatten die politischen Eliten ein feines Gespür für umstürzlerische Ideen und wollten sich auf keinen Fall überflüssig machen. Lieber sollten die Leute über die Weltausstellung reden oder sich Heldengeschichten von der riesigen Demokratie in Nordamerika erzählen. Das kam gut an und war ungefährlich. Auf der Straße und hinter vorgehaltener Hand wurden freilich auch andere Themen diskutiert.
Dieser Mann sprach nun genau diese öffentlich gemiedenen, umstürzenden Gedanken aus, als wären sie das Normalste der Welt. Als müsse doch sicher jeder so denken, als gäbe es nur diese eine Sichtweise der Politik. Seine Rhetorik war brillant, seine Gedankengänge bestechend logisch und sein Wesen einnehmend. Guy gesellte sich zu den Zuhörern.
Binnen kurzem war er fasziniert und völlig in den Bann gezogen. Sollte er tatsächlich den großen Philosophen vor sich haben, von dem sein Verleger berichtet hatte, dass er ihn für die Zeitung habe gewinnen können? Es schien fast so. Dieser Mann hatte nicht nur ein paar ungewöhnliche Gedanken zu bieten. Er hatte weiter gedacht, eine umfangreiche Theorie entwickelt, in der sich alle gesellschaftlichen Belange einfügten und ihren richtigen Platz fanden. Guys Herz raste vor Aufregung und Begeisterung. Er hatte seinen geistigen Führer gefunden.
Was Guy bei seinen Grübeleien als absurd und unmöglich abgetan hatte, hier erschien es realistisch und
Weitere Kostenlose Bücher