Ab die Post
Turm 181 kannten sie als »Prinzessin«, obwohl sie in Wirklichkeit Alice hieß. Sie war dreizehn und konnte eine Linie stundenlang ohne Hilfe steuern, und ihr stand eine interessante Karriere bevor, bei der… Wie dem auch sei, sie erinnerte sich an dieses Gespräch an diesem Tag, weil es ihr seltsam erschien.
Nicht alle Signale waren Nachrichten. Einige übermittelten den Türmen Anweisungen. Wenn man ihnen folgte und bestimmte Hebel umlegte, geschahen Dinge im eigenen Turm. Prinzessin wusste darüber Bescheid. Viele der durch den Großen Strang reisenden Signale gehörten zum so genannten Overhead. Das waren Instruktionen für die Türme, Berichte, Nachrichten über Nachrichten, selbst Geplauder zwischen den Semaphoristen, obgleich so etwas inzwischen streng verboten war. Alles wurde codiert übermittelt. Nur sehr selten empfing man Klartext im Overhead. Doch jetzt…
»Da ist es wieder«, sagte sie. »Es muss ein Fehler sein. Ein Ursprungscode fehlt ebenso wie eine Adresse. Es gehört zum Overhead, aber es ist Klartext.«
Auf der anderen Seite des Turms saß Roger und kehrte ihr den Rücken zu, denn er kümmerte sich um die Oben-Linie. Er war siebzehn und arbeitete schon auf sein Turmmeister-Zertifikat hin.
Seine Hand blieb in Bewegung, als er fragte: »Wie lautet der Text?«
»Zuerst kommt ein GNU, und ich weiß, dass das ein Code ist, dann folgt ein Name: Claus Liebherz. Was…«
»Hast du die Nachricht weitergeleitet?«, fragte Großvater. Er hockte in der Ecke dieses kleinen Schuppens auf halber Höhe des Turms und reparierte eine Klappenbox. Großvater, der Turmmeister, war überall gewesen und kannte alles. Alle nannten ihn Großvater. Er war sechsundzwanzig und immer mit irgendetwas im Turm beschäftigt, wenn Prinzessin an der Linie arbeitete, obwohl immer ein Junge auf dem anderen Stuhl saß. Den Grund dafür begriff sie erst später.
»Ja, denn es war ein G-Code«, sagte sie.
»Das hast du richtig gemacht. Sei unbesorgt.«
»Aber ich habe den Namen schon einmal gesendet. Sogar mehrmals. Nach oben und nach unten. Nur den Namen, ohne eine Nachricht oder so!«
Prinzessin hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, fuhr aber fort: »Ich weiß, dass ein U am Ende bedeutet, dass die Nachricht am Ende der Linie umgedreht werden muss, und ein N bedeutet ›nicht aufgezeichnet‹« Das war Protzerei, aber sie hatte stundenlang im Codebuch gelesen. »Da ist also ein Name, der dauernd nach oben und nach unten gesendet wird! Welchen Sinn hat das?«
Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Roger arbeitete noch immer an seiner Linie, starrte aber mit finsterer Miene nach vorn.
Schließlich sagte Großvater: »Sehr klug von dir, Prinzessin. Du hast völlig Recht.«
»Ha!«, sagte Roger.
»Es tut mir Leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe«, sagte das Mädchen verlegen. »Ich fand es nur seltsam. Wer ist Claus Liebherz?«
»Er… ist von einem Turm gefallen«, antwortete Großvater. »Ha!«, sagte Roger und betätigte die Klappen, als hasste er sie plötzlich.
»Er ist tot?«, fragte Prinzessin.
»Manche Leute sagen…«, begann Roger.
»Roger!«, schnappte Großvater. Es klang wie eine Warnung.
»Ich weiß über das Heimschicken Bescheid«, sagte Prinzessin. »Ich weiß auch, dass die Seelen der Linienleute im Strang bleiben.«
»Wer hat dir davon erzählt?«, fragte Großvater.
Prinzessin war intelligent genug, um zu wissen, dass jemand in Schwierigkeiten geraten würde, wenn sie zu sehr ins Detail ging.
»Ich habe es nur gehört«, erwiderte sie munter. »Irgendwo.«
»Jemand hat versucht, dich zu erschrecken«, sagte Großvater und sah zu Rogers rot glühenden Ohren.
Für Prinzessin hatte es nicht erschreckend geklungen. Wenn man tot sein musste, so erschien es ihr viel besser, wenn man seine Zeit zwischen Türmen fliegend verbrachte, anstatt irgendwo im Boden zu liegen. Aber sie war auch intelligent genug zu wissen, wann man ein Thema besser ruhen ließ.
Es folgte eine lange Pause, in der nur die neuen Klappenstangen quietschten. Schließlich beendete Großvater das Schweigen und sprach, als hätte er über etwas nachgedacht. »Wir sorgen dafür, dass der Name im Overhead in Bewegung bleibt«, sagte er, und Prinzessin glaubte zu hören, wie der Wind in den Klappen-Phalanxen über ihr lauter wurde und das immerwährende Klacken drängender. »Er hätte nie heimkehren wollen. Er war ein wahrer Linienmann. Seine Name ist im Code, im Wind, in der Takelung und in den Klappen.
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