Ab ins Bett!
Kopf drapiert wie kahle Leute ihre letzten Haarsträhnen. »Traurig, daß wir uns bei einem solchen Anlaß kennenlernen, aber...« Sie zuckt die Achseln.
Dina lächelt entgegenkommend. Ich nehme sie an die Hand, und meine Verwandten teilen sich, damit wir zum nächsten Trauerring Vordringen können, wobei Simon es sich nicht nehmen läßt, seine Augen so demonstrativ von Alice zu Dina und wieder zurück wandern zu lassen, daß es mir nicht entgehen kann. Im inneren Kreis sind Ben, Alice, meine Mutter, mein Vater und Rabbi Louis Fine. Instinkt siegt über Religion und Lust, und meine Augen wandern zuerst zu meiner Mutter.
»Ach, Gabriel«, schluchzt sie. Ihre Augen sind wund. Eindeutig nicht zum ersten Mal an diesem Tag bricht sie in Tränen aus und wirft mir die Arme um den Hals, und ich, elender nutzloser Scheißkerl, der ich bin, weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll; es ist mir so ungewohnt, daß sie echte Gefühle zeigt, daß ich mich stocksteif mache und die Mauer zwischen uns sofort mit einem ordentlichen Schlag Zement befestige. Während ihr Körper an meiner Schulter zittert, sehe ich zu meinem Dad hin, der einen völlig unpassenden weinroten Flanelldreiteiler trägt. Ein Außenstehender könnte meinen, daß er es bewußt darauf anlegt, die Familie meiner Mutter zu brüskieren, aber woher sollte ein Außenstehender wissen, daß es der einzige Anzug ist, den er hat. Dads Augen flackern unruhig weg: Jedes andere Gefühl außer Wut irritiert ihn bloß.
»Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?« fragt Alice besorgt. Sie trägt ein schwarzes, wadenlanges Seidenkleid und eine russische Kappe mit Kunstpelzbesatz: Sie sieht fantastisch aus, unglaublich sexy.
»Das erzähl ich dir später«, sage ich. Meine Mutter tritt zurück und holt ein Papiertaschentuch aus ihrem Blusenärmel, genau wie Mutti, die ihr Taschentuch auch immer im Ärmel hatte. Sie betupft sich die Augen damit, aber es ist von früheren Tränen schon so naß, daß es keine mehr trocknet.
»Tut mir leid, daß du es von der Polizei erfahren mußtest«, sagt sie durch Schluchzer. Sie selbst war bei einem Zeppelin-Treffen in Hannover gewesen, als Mutti starb. Wo mein Vater war, weiß ich nicht - vielleicht hatte er die Nachricht schon aus irgendwelchen Geheimquellen gehört und war unterwegs und feierte —, jedenfalls konnten die Leute vom Liv Dashem-Heim ihn nicht erreichen, weshalb sie sich an die Polizei wandten, die dann irrtümlicherweise zu mir als nächstem Angehörigem kam.
»Macht nichts«, sage ich und stelle mich neben Ben: Dina kopiert mich und geht zu Alice. Rabbi Fine, ein kleiner, gedrungener Mann mit, wie alle Rabbis, Bart und Brille, hustet und legt meiner Mutter die Hand auf den Arm.
»Wir beginnen wohl lieber«, sagt er. Sie nickt, und unsere langsame Prozesssion zieht an Grabhügeln vorbei, Hunderten davon, die auf dem Gesicht der Erde anschwellen wie eine allergische Reaktion.
Bei jüdischen Beerdigungen ist es Tradition, daß, nachdem der Sarg versenkt ist, die engste Familie damit beginnt, Erde daraufzuschaufeln. Ich bin mir nicht so sicher, ob ein therapeutischer Sinn darin liegt oder nicht, aber ich weiß, daß einem nichts die eigene Sterblichkeit so deutlich macht wie ein kräftiger Schaufelstoß: Als ich die Schippe von meinem Vater übernehme, kann ich es förmlich hören, wie die Krähen in meiner Seele krächzen. Während ich mich bücke und einen dicken Erdklumpen von dem Hügel grabe, wird meine Aufmerksamkeit plötzlich durch einen gruseligen Anblick abgelenkt: Oben auf dem Sarg sehe ich was, das wie Gekritzel aussieht. Und so ist es: In tiefschwarzem, extrabreitem Filzstift stehen die Worte »Eva Baumgart« auf dem hellen Fichtenholz. Das ist doch nicht richtig, oder? Ich meine, natürlich ist es besser, als die verkehrte Person zu begraben, aber sicher hätte doch jemand in der Zwischenzeit ein feuchtes Tuch nehmen und den Filzstift abwischen können! Irgendwas an dem achtlosen Gekritzel macht mich wütend: Ich sehe die Hand des Bestattungsinstituts-Assistenten, wie er auf seine Liste guckt, den bedeutungslosen Namen auf den Deckel schreibt und dann vergißt, ihn wegzuwischen, ehe der Sarg auf den Katafalk gehoben wird, und ich bin nicht wütend auf ihn, sondern auf den Tod, weil er so oft geschieht, daß wir ihn an Leute delegieren, die gegen ihn abstumpfen. Schnell kippe ich die Erde von der Schaufel ins Grab und sehe zu, wie Schmutz auf Muttis Name fällt; mittlerweile gucken die echten
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