Ab ins Bett!
nickend.
»Jaah, Leute, die sich vom Alter unterkriegen lassen. Eva war so ungefähr die einzige weit und breit, die nicht so war.«
Darüber hebe ich leicht die Braue.
»Na, ein bißchen natürlich schon«, sagt Millie kopfschüttelnd. »Glaub mir, sie war ganz wild auf Plätzchen, und sie mußte sich die Haare unbedingt blau färben. Und es war ihr wirklich schrecklich wichtig, ob du und Ben ein jüdisches Mädchen heiratet oder nicht. Was ja alles ein bißchen alt ist. Aber davon abgesehen — vielleicht hast du nichts davon gemerkt, weil sie es immer ein bißchen... übergroßmuttert hat, wenn du da warst — aber trotzdem...«, Millies Blick verschwimmt, »klatschte sie in die Hände, wenn sie sich freute. Und wenn es schneite, dann guckte sie mit staunenden Augen aus dem Fenster.«
Millies Eisgesicht taut plötzlich auf; sie hebt zwei Finger, und auf den ersten Blick denke ich, sie sind von Arthritis zu einer Klaue verkrümmt, aber sie will mich bloß in meine schlecht rasierte Backe zwicken, halt das liebevolle jüdische Ding.
»Ich bin froh, daß du hergekommen bist«, sagt sie und zwickt noch ein-, zweimal nach. »Ja, ich bin wirklich froh, daß du es bist und nicht... ich weiß nicht, Simon oder der Rabbi, die mir erzählen wollen, daß alles gut so ist, und wir uns alle eines Tages da oben Wiedersehen.«
»Nein.« Ich sehe zum offenen Grab hinüber. »Es ist nicht gut so, nicht wahr?«
Millie schüttelt den Kopf, und ich, der über die banalsten Hollywood-Machenschaften heule, der, an einem guten Tag, bei ’ner Vorabendserie Tränen vergießt, fühle zum erstenmal, seit meine Großmutter gestorben ist, einen Kloß im Hals. Ein Flugzeug jettet über uns hinweg, und ich lehne den Kopf zurück, um ihm nachzusehen. Es muß wirken, als sei das mein letztes Mittel, die Tränen zurückzudrängen, aber so ist es nicht. Ich will bloß in diesem Flugzeug sein: nirgendwo spezielles hinreisen, einfach fliegen, endlos über den Wolken schweben, nirgends ankommen, einfach treiben und gleiten, aus dem Fenster auf die Antarktis des Himmels sehen.
»Tag, Ben«, sagt Millie über meine zuckende Schulter.
»An Simcha, Millie. Gabriel, kann ich dich mal kurz sprechen?«
* * *
Ben und ich gehen über den Kiesweg, der den Willesden-Friedhof umgibt; der Pfad ist von einer Reihe Bäume gesäumt - keine Ahnung, welche Sorte, tut mir leid - und einem ungefähr zwei Meter hohen Holzzaun, die sich vereint mühen, die Toten von den Lebenden abzuschirmen.
»Was glaubst du, wie Mum es verkraftet?« sagt er, nachdem wir ungefähr eine Minute stumm nebeneinander hergegangen sind.
»Nicht sehr gut«, sage ich und merke sofort, daß es nicht diese Frage ist, die er mit mir bereden will. Wir knirschen ein Stück weiter.
»Jetzt haben wir überhaupt keine Großeltern mehr...«, sagt er schließlich.
»Nein.« Nächstes Mal wird. »Groß« fehlen und nur »Eltern« sein, und danach wird gar nichts mehr sein.
»Aber sie werde ich wirklich vermissen.«
»Jaah, als die anderen starben, waren wir noch zu klein.« Weiteres zielloses Wandern; jetzt können wir wieder die ums Grab versammelten Trauernden sehen. Eine zaghafte Aprilsonne hat die Nieselwolken ein wenig verscheucht, und alle machen jetzt plaudernd die Runde und genießen den Tag im Freien.
»Guck dir den Stein da an«, sage ich und zeige auf einen ungefähr drei Gräber weiter. Die Grabsteine in diesem Teil sind neu, schwarz und schimmernd und mit eingraviertem Gold. »In liebevollem Gedenken an Brian Flan. Wie um Himmels willen kann er bloß...«, ich blinzele genauer hin, »dreiundsiebzig Jahre auf dieser Erde mit so’nem Namen zugebracht haben?«
Ben bleibt stehen, guckt aber in die andere Richtung, zur Straße hin.
»Gabriel, wie ernst ist es dir mit Dina?«
»Ernster als mir war. Warum?«
Er sieht mich immer noch nicht an. »Ich habe eine Affäre«, sagt er, als sei es die logischste Antwort der Welt.
Mein Inneres kommt ins Schlingern. Natürlich habe ich diesen Moment schon oft fantasiert. Nicht genauso wie jetzt, und schon gar nicht bei der Beerdigung meiner Großmutter. Außerdem kamen die Fantasien normalerweise immer via Alice: Sie ruft mich an, bricht am Telefon in Tränen aus, sagt, sie ist überzeugt, daß Ben eine andere hat, ich eile hin, um sie zu trösten, badabing, badabomm. In letzter Zeit haben mich solche Fantasien allerdings kaum noch geplagt, und auch als sie noch fester Bestandteil meiner Tagtraumlandschaft waren, habe ich sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher