Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab ins Bett!

Ab ins Bett!

Titel: Ab ins Bett! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
Vom Netzwerk:
Totengräber, die an irgendwelchen Steinen in der Nähe lehnen, gelangweilt zu uns hin. Sie können es kaum abwarten, bis das alberne Zeremoniell vorüber ist und sie die Sache professionell zu Ende bringen.
    Ich überreiche Ben die Schaufel und steige von dem Hügel herab, die Anzugaufschläge voller Staub. Wirklich, Ben hätte vor mir an die Reihe kommen sollen. Nicht nur, weil er der ältere ist, sondern weil er schließlich an das ganze Ritual glaubt, oder zumindest in den letzten Monaten seinen Glauben daran entdeckt hat. Als das Kaddish aufgesagt wird, das Totengebet, kann er es auswendig, während ich es von einem Zettel ablesen muß, auf dem die Worte in Lautschrift stehen. Rabbi Fine, der weit genug vom Grab entfernt steht, daß kein Staubregen auf seine schwarze Robe fällt, singt: »Baruch Hashem Halevi Hashoah Adoni.«
    Ben legt die Schaufel nieder, und die engste Familie stellt sich in einer Reihe auf, damit der Rest der Trauergemeinde kommen und uns die Fiand geben kann. »An Simcha«, sagt einer nach dem anderen, »An Simcha«, »An Simcha«. Übersetzt: »An einem Festtag/freudigen Anlaß«, was bedeutet, darauf hoffen wir, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Ich mag diesen typisch jüdischen Sinn für aufgeschobenes Glück. Man akzeptiert, daß es heute schlecht ist, aber bald wird es besser sein — und nicht in einer anderen Welt, sondern hier, in Willesden, in Buchenwald. Ich kenne nicht die Namen all der alten Männer und Frauen, die mir die Hand geben, aber dann kommt einer, den kenne ich: Mr. Fingelstone, auch wenn er, seinen großen, fragenden Augen nach, nicht weiß, wer ich bin.
    »An Simcha«, sagt er und sieht sehr traurig aus. »Sie war eine gute Frau.«
    Er wirkt dünner, als ich ihn in Erinnerung habe, als sei er in seinem braunen, nach pensioniertem General aussehenden Anzug geschrumpft wie die Jungen auf dem Bahnsteig am Streatham-Bahnhof. Seine Hand drückt meine mit der ganzen absurden Wucht, die sich Leute, die faktisch keine Kraft mehr haben, fürs Händeschütteln aufzuheben scheinen; schließlich läßt er meine Hand los und geht weiter. Seine Anwesenheit erinnert mich an jemanden, der fehlt, und meine Augen wandern über den Friedhof.
    »An Simcha«, sagt eine fistelige deutsche Stimme.
    »193 Cloister Road. Direkt an der A 40«, höre ich eine sehr ähnliche Stimme: Lydia und Lotte Frindel, mitsamt Gehgestell und Rollstuhl, warten auf meine Erwiderung. Aber ich habe entdeckt, wonach ich Ausschau halte, ungefähr hundert Meter entfernt, unter der Statue eines trompetenden Engels.
    »Entschuldigung«, murmele ich, lasse sie einfach stehen und habe dabei das Gefühl, daß das ganz in Muttis Sinne gewesen wäre.

    Übers feuchte Gras renne ich durch die Gräber zu Millie Gildart hin. Obwohl ich längst ihre Sichtlinie gekreuzt habe, merke ich, daß sie unbeirrt zu dem offenen Grab hinsieht. Ihr Blick ist so konzentriert, als würde sie auf etwas zielen.
    »Hallo, Millie«, schnaufe ich atemlos und komme beim Abstoppen leicht ins Rutschen.
    »Gabriel...«, sagt sie, nickt kurz, läßt aber nicht von ihrem Hundertmeter-Blick ab. Plötzlich merke ich, daß ich zwar hergeschossen bin wie ein Besessener, aber eigentlich nichts Besonderes zu sagen habe.
    »Ehhmm... warum kommst du nicht rüber zu uns?« Was Besseres fällt mir nicht ein.
    »Ich mache mir nicht viel aus Beerdigungen«.
    »Wer tut das schon?«
    Jetzt guckt sie mich an, wobei die Brennschärfe ihres Blicks nachläßt. »Deine Tante Edie. Diese dumme Zicke, die macht sich doch in die Hose, so verrückt ist sie drauf.« Eine so finstere Rage liegt in Millies Sätzen, als wollte sie Dylan Thomas’ Vermächtnis erfüllen.
    »Sogar auf die ihrer Schwester?« sage ich, bemüht, mir mein Staunen nicht anmerken zu lassen, daß eine Zweiundachtzig-jährige flucht.
    »Manche Leute sind eben so weit abgedriftet, daß nicht mal der Tod sie zurückholen kann.«
    »Jaah, nun...«, sage ich, ratlos, wie ich auf Millies unverwässerte Art reagieren soll.
    »Sie war so ein Schatz, deine Großmutter«, fährt Millie an die Luft gewandt fort, »so ein Schatz.« Sie blinzelt. »Altwerden bringt die scheußlichsten Sachen mit sich, Gabriel. Haufenweise Scheußlichkeiten. Man wird hinfällig, man verblödet und so weiter und so weiter. Sie seufzt tief. »Aber wenn du mich fragst, das Schlimmste ist, daß man seine ganze Zeit mit alten Leuten zubringen muß. Ich meine...«
    Ich weiß, was sie meint. »Richtig alten«, sage ich

Weitere Kostenlose Bücher