Ab ins Bett!
«
Ein kurzes Wutflackern blitzt in den Augen meines Vaters auf, aha, irgendwo gibt’s ihn also noch.
»Ich bin sicher, du hast immer von Tina geredet«, brummt er gepreßt.
»Als hätte er je schon mal richtig zugehört!« sagt meine Mutter zu mir und lacht. Ich bin sicher, ich höre das Brodeln und Blubbern kochenden Bluts.
»Sie ist nach Amerika zurück«, sage ich und versetze meiner Mutter damit einen Dämpfer.
»Wirklich? Ach, für einen kurzen Urlaub...«
»Nein, das glaube ich kaum...«
Eine Decke von Ich Weiß Nicht Was Ich Sagen Soll senkt sich in den Raum.
»Oh«, sagt meine Mutter und sieht eine Sekunde so aus, als wollte sie weinen. Seit Muttis Tod ist die Membrane zwischen ihr und dem Leben, jene, die die Wirklichkeit fernhält, überdehnt und porös geworden. Wenn sie reißt, wird meine Mutter zweifellos einen Nervenzusammenbruch haben; womöglich ist das ja auch meinem Vater klar und der Grund für seine Verwandlung...
»Na ja«, sagt er, »gibt noch haufenweise andre Fische im Teich.«
Ich gucke ihn ungläubig an — so was sagt doch nun wirklich kein Mensch mehr —, aber dann fällt mir ein, daß mein Dad ja gerade erst anfängt, normal zu sprechen: Wahrscheinlich wird er sich durch all die Klischees arbeiten müssen, die ganze Müllschicht oben auf der Sprache, ehe er zu seiner persönlichen Ausdrucksweise findet. Schade, als er noch fluchte, war er wirklich originell.
»Na, für Alice ist das bestimmt bedauerlich...« sagt meine Mutter. Sie hat die Tränen zurückgedrängt.
»Ja. Wie Ben sagt, fing sie gerade an, es zu genießen, daß ihre Schwester in London ist.«
»Na ja«, sagt mein Vater, geht zu seiner Frau hinüber, legt seinen Arm um sie, schenkt ihr ein Glas Wein ein und hebt seins. »Also dann: Auf Gabriel. Und sein Glück in der Liebe.«
»Ach, leck mich am Arsch«, sage ich.
»Gabriel«, sagt er mit väterlich streng erhobener Stimme. »Gebrauch solche Ausdrücke nicht. Nicht vor deiner Mutter!«
Er drückt den Korken wieder in die Flasche. Meine Mutter wendet sich zu ihm um und lächelt ihn dankbar an, so als hätte er ihr gerade einen häuslichen Traum erfüllt.
»Ich finde, das war ein sehr schöner Trinkspruch, Stuart«, sagt sie sanft und hebt ihr Glas. »Auf Gabriel und sein Glück in der Liebe.«
»Auf Gabriel und sein Glück in der Liebe.«
»Auf mich und mein Glück in der Liebe.«
Mit einem solchen Sarkasmus sage ich das, daß er sogar aus dem Klang unserer aneinanderstoßenden Gläser herauszuhören ist. Als ich das Glas an die Lippen setze, bin ich noch so voll kindischer Wut, daß ich kaum merke, wie mir die Flüssigkeit über die Zunge läuft, aber der Nachgeschmack ist so... so eichig, buttrig, würzig und reif, er haut mich um.
»Und wirst du die da mit dem ganzen Rest zusammen abstoßen?« sagt mein Vater und zupft meine Mutter an der Schürze.
»Ach, darüber wollte ich gerade mit dir sprechen«, sagt sie.
Hastig trinke ich noch einen Schluck, stürze ihn hinunter, offengesagt. Gott. Dieser Wein ist wie ein völlig anderes Getränk. Fast mehr wie ein Essen. Sie wissen doch, wie diese Leute, die über Weine schreiben, immer vom Körper reden? Nun, genau das hat dieser hier. Er fühlt sich wie etwas Dreidimensionales im Mund an, wie ein köstlicher Geschmackswürfel. Ich habe ihn gefunden, meinen Wein. Ich habe ihn gefunden.
»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich die ganze Sammlung verkaufen will...« sagt meine Mutter.
»WAS!!«
Meines Vaters plötzliche Rückkehr zu seiner gewohnten Lautstärke rüttelt mich aus meinen Kontemplationen.
»Fang nicht wieder so an, Stuart.«
»Himmelarsch!! Du hast doch gehört, was der Mann gesagt hat: Er gibt uns über achtzigtausend für den ganzen Kram!!«
»Mir gibt er über achtzigtausend für den ganzen Kram.«
»Ach, du weißt verdammtnochmal genau, was ich meine.« Dies ein bißchen leiser.
»Und ich finde, daß sein Angebot zu niedrig ist. Ich meine, allein Kapitan Lehmanns Mütze ist fast dreitausend wert. Und erst das Modell von meinem Vater... ich glaube, es ist vielleicht besser, noch ein bißchen zu warten.«
»O nein! Ich kenne dich! Du suchst bloß einen scheißverdammten Vorwand. Du wirst das Zeug nie verkaufen!«
»Dad...«
»WAS!!!«
»Wo hast du den Wein her?«
»DAS WEISS ICH ZUMARSCHNOCHMAL NICHT!!«
»Laß mich doch mal aufs Etikett gu... «
»Das hast du geplant, stimmt’s?« Er hat sich wieder zu meiner Mutter umgedreht und bohrt sein Gesicht förmlich in ihrs.
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