Ab ins Bett!
heute Nacht lege ich mich lieber gleich hin zum Wachen: Ich muß über eine Menge nachdenken. Ich schätze, viereinhalb Stunden dürften gerade reichen.
3
Apropos die eigene Mutter umbringen.
»Hallo, Schatz. Wie läuft’s? Ich bin ja so froh, daß wir endlich kontaktieren. Ich wollte mich schon längst mit dir kurzschließen, aber ich hatte einfach keine Minute Zeit. Erst das HGK-Treffen und dann die Fahrt hoch nach Harrogate zu der astronautischen Auktion, also ich kam buchstäblich nicht zum Luftschnappen. Buchstäblich!«
»WIRST DU VERDAMMTNOCHMAL ’S MAUL HALTEN, DU DÄMLICHE ALTE WICHSBÜCHSE!«
Ich gucke gerade bei meinen Eltern in der 22 Salmon Street, Wembley Park, vorbei. Wie immer redet meine Mutter über zwei Dinge: sich selbst und die HINDENBURG. Die Hindenburg, oder, technisch ausgedrückt, die LZ 129, war das letzte große Luftschiff, das je für kommerzielle Zwecke gebaut wurde und das bei seiner dreiundsiebzigsten Atlantiküberquerung am 6. Mai 1937 über Manhattan explodierte, wobei zweiundzwanzig Besatzungsmitglieder und zwölf Passagiere ums Leben kamen. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war einer der ersten Konstrukteure, ehe er seinen Job und sein Haus verlor und später all seine Brüder und Schwestern, weil er jüdisch war; aber meine Mutter hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihn und sein Werk vor dem Vergessen zu bewahren. Sie ist sowohl Präsidentin wie Gründungsmitglied des HGK: des Hindenburg-Gedächtnis-Kreises, früher eine Unterabteilung der Zeppelin-Liebhaber-Gesellschaft — das Kürzel ZLG war die Seriennummer irgendeines anderen großen Luftschiffs; aber infolge eines gewaltigen Streits beim Treffen des East Finchley-Ortsvereins über die Luftgeschwindigkeit des Graf Zeppelin (vier Knoten langsamer als die Hindenburg, laut meiner Mutter) kam es zur Abspaltung von der Dachorganisation. Der HGK -ursprünglich hieß er HGG, Hindenburg-Gedächtnis-Gesellschaft, aber nach einer beim zweiten Treffen durchgeführten Abstimmung kam man überein, daß man bei vier Leuten eigentlich bloß von einem Kreis reden könne — trifft sich alle zwei Wochen, normalerweise im Haus meiner Eltern, obwohl in letzter Zeit die Rede davon war, daß zur Abwechslung vielleicht mal ein anderes Mitglied für Tee und Kuchen sorgen könnte. Das Haus meiner Eltern gibt eine gute Kulisse für den HGK ab, denn die Wände ächzen unter dem Gewicht Tausender Bilder des großen, ungelenken Luftschiffs, verzinnter Modelle davon, Büchern darüber, von denen ungefähr 500 Exemplare des von meiner Mutter verfaßten Die Hindenburg und ich sind, und von verschiedenen echten Stücken und Teilen, die das Luftschiff an jenem verhängnisvollen Tag über Manhattan ausspuckte, eingeschlossen Kapitän Lehmanns Mütze und das Originalfunkgerät aus schwarzem Bakelit. Ich nehme an, bei den Treffen wird viel über die Hindenburg gesprochen, und wahrscheinlich lesen sie sich Artikel aus Luftfahrtgeschichtsmagazinen vor, besonders wenn Irene Jacoby zufällig die Autorin ist; sie glucken über neuen Denkwürdigkeiten und führen erhitzte Debatten darüber, ob jede Passagierkabine eine eigene Dusche hatte oder nur WC; sie diskutieren sogar darüber, ob das Luftschiff den Nazis als Propaganda-Ikone diente. Ein mit der Hindenburg zusammenhängendes Ereignis wird jedoch nie, niemals erwähnt: die Explosion. Ein auf der Erde gelandeter Marsbewohner könnte bei einem HGK-Treffen hereinschneien — für einen Marsbewohner nicht unbedingt eine glückliche Wendung der Dinge, um ehrlich zu sein - und nie von der Katastrophe erfahren; er könnte wieder und wieder und wieder kommen, und nie ein Wort darüber hören, obwohl bis dahin wahrscheinlich die Rede davon wäre, daß er jetzt mal an der Reihe sei, für Tee und Kuchen zu sorgen.
Alles, was meine Mutter tut, hat auf irgendeine Weise mit der Hindenburg zu tun. Auf dem Nummernschild ihres Wagens steht LZ 129; die einzige Band, von der ich nie eine Platte ins Haus bringen durfte, war Led Zeppelin (gucken Sie sich das Cover ihres ersten Albums noch mal an); sie hat ein T-Shirt mit dem Aufdruck - nein, ich lüge nicht — Ich trage Hindenburg im Herzen. Verbinden Sie all dies mit einer Neigung, die Ausdrücke »kurzschließen« und »kontaktieren« überzustrapazieren, und Sie haben meine Mum.
Mein Vater schreit sie an. Das ist das einzige, was er dieser Tage tut. Na gut, seien wir fair: Er schreit sie nicht nur an. Er schreit sie an und verflucht sie. Aber eins muß man ihm
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