Ab ins Bett!
darauf herumreitet, wie sie es einfach nicht verstehen kann, warum er nicht heiratet; aber ich will fair sein: Wenn Edie in der Nähe ist, verkriecht sich Simon so tief im Wäscheschrank, daß man ihn aufmachen und fünf oder sechs Wolldecken für Übernachtungsgäste herausholen könnte, und ihn immer noch nicht in der Ecke, in der er sich versteckt, entdecken würde. Da er bei seiner Mutter wohnt, hat er sich wahrscheinlich vollkommen daran gewöhnt, in dieser Luftknappheit zu atmen. Als ich zu ihm hingucke, denke ich wie so oft, daß ich Simon nicht mögen würde, wäre ich schwul. Ich glaube, er ist Anfang vierzig - einmal fragte ich ihn nach seinem Alter, da machte er einen Schmollmund und giftete: »Kümmer dich um dein eigenes!!«, was für meine Begriffe ziemlich verräterisch war. Er trägt sein gefärbtes schwarzes Brillantine-Haar mit Seitenscheitel und hat ein so mit Pockennarben überzogenes Gesicht, daß er nichts weiter tun brauchte, als an einer amerikanischen Flagge zu suckeln, und er wäre das Abbild der Mondoberfläche.
Der Rest der Schlange besteht aus Mitgliedern meiner Familie, die, der reinen Vollzähligkeit halber, immer bei solchen Anlässen erscheinen: Onkel Ray, der ein rotierendes linkes Auge hat und nach Kohl riecht, seine Frau Avril, einssechzig lang und einszwanzig breit, die erst vor sechs Monaten wieder zu ihm zurückkehrte, nachdem sie mit Maurice Gross, einem Parapsychologen aus High Barnet, durchgebrannt war; ihre beiden Kinder, Tochter Tanya und Sohn Maurice; und Tante Bubbles, die überhaupt nur ein einziges Wort sagt: »Wunderbar!« Wenn ich Mitglieder meiner Familie sage, meine ich natürlich die Familie meiner Mutter. Mein Dad hat keine lebenden Verwandten, aber selbst wenn er welche hätte, bezweifele ich, daß er sie heute eingeladen hätte; er versteht sich nicht mit meiner Großmutter - natürlich versteht er sich auch mit meiner Mutter nicht, aber auf eine andere Art. Er stellt sich demonstrativ nicht in der Schlange an, sondern bleibt im Sessel neben dem imitierten antiken Kaffeetisch sitzen und stiert finster in Rommel? Gunner Who? von Spike Milligan, an dem er seit ungefähr fünfzehn Monaten liest. Immer wenn ich zu ihm hinsehe, scheint er ein Stück tiefer in die Sesselpolster versunken zu sein.
»Danke, Tanya! Danke, Maurice!« sagt meine Großmutter und hält eine runde goldene Brosche mit einem Davidstern darauf hoch. Als der Name seines Sohns fällt, spannen sich Onkel Rays Halsmuskeln kaum merklich an, was sie bestimmt zehn oder zwanzigmal am Tag tun. Wenn bloß Edies Mann Henry noch lebte, dann könnte er mit jemand namens Simon durchbrennen und ihr damit die Kosten eines Gesichtsliftings ersparen. Maurice und Tanya, die eine beunruhigend enge Beziehung haben, hören eine Mikrosekunde auf, sich verzückt in die Augen zu blicken und lächeln Mutti verschämt an, fast so, als hätten sie das Geschenk selbst gekauft. Dann fangen sie wieder an, sich gegenseitig als Spiegel zu benutzen.
»Und wie geht’s Nick?« fragt mich ein Cello von einer Stimme.
Ich sehe Alice an, die an Bens Brust lehnt, als sie mich anspricht. Heute sehe ich sie zum ersten Mal seit meiner Liebelei mit Dina — Meine Liebelei mit Dina, klingt wie ein Music Hall-Song aus den Dreißigern. Da ich wußte, daß sie hier sein würde,- hatte ich mich gefragt, ob meine wachsenden, unklaren Gefühle für ihre Schwester meiner Sehnsucht nach ihr den Stachel nehmen würden; jedenfalls war Alice in diesen letzten beiden Wochen nicht mehr dauernd wie ein Kulissenvorhang durch meine schlaflosen Gedanken gewedelt. Als ich aus dem Bus stieg und die Edgwarebury Lane hochlief, war ich sogar ziemlich optimistisch, daß ich mich in ihrer Gegenwart vielleicht nicht mehr so in der Liebesfalle fühlen würde. Aber eins hatte ich nicht einkalkuliert: Ihre Titten haben mich wieder reingeritten.
Stimmt eigentlich gar nicht. Bloß des blöden Reims wegen habe ich Titten gesagt, obwohl sie gut dreißig Prozent von Alices Einschlagkraft ausmachen. Eigentlich meine ich, mit ihr hatte ich nicht gerechnet (so gern ich das eines Tages tun würde — »Alles, was ich habe! Alles, was ich auf der Welt besitze, es gehört dir!«). Kennen Sie das, diese unsägliche Sehnsucht im Innern? Wie sie lange Zeit in einem schlummert und einem dann immer wieder unverhofft explosionsartig die Brust zersprengt, so wie wenn man die Stadt hinter sich läßt und mit der richtigen Musik im Radio an einem Feld vorbeifährt? Sie fühlt sich
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