Ab ins Bett!
vage an, diese Sehnsucht, so als richte sie sich auf gar nichts, sei einfach bloß Sehnsucht an sich, ein schierer Aufschrei der Seele. Aber ich versichere Ihnen, meine Sehnsucht hat ein Ziel: Alice.
»Es ist eine Chanukka-Speise, Mutti!«
»Sie weiß, was es ist, Avril.«
»Wunderbar!«
»Nicht besonders«, sage ich zu Alice. Sie nickt teilnahmsvoll, wobei ihr Gewusel schwarzer Locken gegen Bens Einmeterzwanzig-Brust hüpft. Obwohl ich mir denken kann, daß sie es schon weiß, überkommt mich der Drang, ihr zu erzählen, daß ich mit Dina geschlafen habe, will ich ihr meine verquere Untreue beichten.
»Nimmt er Psychopharmaka ein?«
Ich bin immer verblüfft, wenn Alice irgendwas von meinem Leben weiß. Das kommt zum Teil daher, daß ich, egal wie von-gleich-zu-gleich mein Geplauder mit ihr an der Oberfläche klingen mag, innerlich am Boden krieche, es mich förmlich umhaut vor Dankbarkeit, daß sie sich überhaupt dazu herabläßt, mit mir zu reden: und alles, einfach alles — angefangen damit, daß sie sich an meinen Namen erinnert - verbuche ich für mich. Andererseits strahlt Alice tatsächlich eine gewisse Nonchalance aus, die ihre Wurzel allerdings nicht in Arroganz oder Geringschätzung hat, sondern Gelassenheit: Sie hat einen Kreis um ihr Leben gezogen, und es nicht nötig, aus ihm herauszutreten.
Also bin ich erstens überrascht, daß sie den Namen meines Wohngenossen kennt, dann noch überraschter, weil sie weiß, was mit ihm los ist: und gar angesichts ihrer Kenntnis der verordneten
Behandlung bin ich wie vom Donner gerührt. Dann dämmert mir, woher ihre Kenntnisse stammen.
»Hat Dina dir davon erzählt?« frage ich und verberge mittels gedämpftem Ton, aus dem meine Besorgtheit um Nick herausklingen soll, meine heimliche Freude über diesen unerwarteten Nebeneffekt meiner Liebelei mit ihrer Schwester. Alice nickt, schenkt mir ein gelassenes Lächeln und hebt dabei beide Brauen. Onkel Ray und Tante Avril gehen jetzt am Kopf der Schlange auseinander, jeder in die entgegengesetzte Richtung.
»Ja. Zumindest glaube ich, daß er sie nimmt«, sage ich und rücke einen Schritt auf. Simon beugt sich lächelnd zu Mutti hinab, ein in blaues Kreppapier eingeschlagenes Paket in den Startlöchern auf seiner Hand. »Genau weiß ich es natürlich nicht, denn ich kann ihm das Zeug ja nicht bis in den Magen pressen. In den letzten Tagen war er jedenfalls auffällig ruhig. Vielleicht hatte Fran ja doch recht, was diese Pillen betrifft.«
»Fran?«
»Hat Dina dir nicht von ihr erzählt?«
Alice guckt mich verständnislos an. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sich Dina nicht bei ihrer Schwester Luft gemacht hat über Fran - nur die Art, wie mein Vater meine Mutter beschreibt, kann sich mit den Ausdrücken messen, mit denen Dina Fran bedachte, als wir uns vom Krankenhaus auf den Heimweg machten. Und entweder ist Alices Ignoranz ein Beispiel für die Grenzen ihrer Anteilnahme an meinem Leben oder...«
»Meinst du die Flihippie?« sagt Ben.
Ahhh... Sie kennen sie unter anderem Namen.
»Hat Dina sie so genannt?« frage ich.
»Jaah. Eine Mischung aus Flippie und Hippie, sagte sie.«
Alice schüttelt den Kopf und lacht. »Typisch Dina.«
»Genau...«, sage ich.
Mutti hält Cousin Simons Geschenk hoch, ein gerahmter Druck der Klagemauer. Allmählich erkenne ich ein Leitmotiv hier. Ich will Ben und Alice schon fragen, wo Dina ist, überlege es mir aber anders. Immerhin ist es einleuchtend, warum sie nicht hier ist. Ein Familientreffen ist eine Arena, wo sich die eigene Identität, mindestens, dreidimensional zusammensetzt, unter Umständen aber auch, wie eine technische Zeichnung erst aus sieben oder acht Perspektiven ein Gesamtbild ergibt: zum Beispiel ist Tante Edie meine Großtante, Muttis Schwester/Simons Mutter, Rays Tante etc, etc. - aber wer ist Dina? Bens Schwägerin? Oder meine Freundin? Das letzte, was man von einem Familientreffen will, ist diese Sorte Unklarheiten. Außerdem werfen Maurice und Tanya weiß Gott schon genug Ungewissheit auf.
Mein Dad lacht laut. Alle im Raum verschieben ihre Aufmerksamkeit von Mutti auf ihn. Er hebt die Augen von seinem Rommel? Gunner Who?
»Was ist?« brummt er.
»Stuart...«, sagt meine Mutter.
»Was?«
»Oh, Stuart.«
Die Adern auf meines Vaters kahlem Schädel schwellen vor Flüchen an. Aber er behält sie für sich: In der Beziehung ist er ziemlich gut, mein Vater - er schreit meine Mutter nur zu Hause an. Zugegeben, einmal forderte Onkel Ray ihn
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