Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
Vom Netzwerk:
wenn ich könnte.«
    »Du hast doch keine Ahnung!« Mein jüngster Bruder klappte wütend das Fotoalbum zu, in dem er gerade geblättert hatte. »Du sitzt da drüben in deiner riesigen Wohnung in Charlottenburg, säufst dir den Osten schön oder kokst dir einen und denkst, du weißt Bescheid. Aber du weißt einen Scheißdreck!«
    Ich hielt es nicht mehr aus, stand auf und ging. Als ich wiederkam, waren beide weg – die meisten Sachen meines Vaters hatten sie mitgenommen. Doch ich war ja nicht blöd und hatte mir vorher schon die Dinge genommen, die ich behalten wollte. Pech gehabt.
     
    Pech gehabt, dachte ich auch, als die Mauer aufging.
    Seit ein paar Tagen hatte ich einen Stempel in meinem Pass, der es mir erlaubte, einen Monat lang nach Westberlin zu gehen. Kurz nach dem Tod meines Vaters im Sommer hatte ich einen Brief an den stellvertretenden Kulturminister geschrieben und darum gebeten, meinen ältesten Bruder besuchen zu dürfen. Der Minister kannte sowohl meinen Vater als auch meinen Bruder, und er galt als liberaler als die meisten da oben. Er erteilte die Genehmigung.
    Eine Woche bevor sie die Schranken für alle öffneten, ging ich alleine durch. Es war früher Abend und ungewöhnlich mild für einen Novembertag. Die türkischen Gemüsehändler von Kreuzberg saßen vor ihren Geschäften und plauderten mit ihren Kunden. Das Leben hier schien bunt und leicht. Fast wie Italien, dachte ich und hatte nicht die geringste Ahnung von Italien.
    Ich stieg in die U-Bahn und fuhr zu meinem Bruder, der mich bereits erwartete. Seine Wohnung war groß und sah so aus, wie auch seine Wohnung im Osten ausgesehen hatte. Weite Zimmer mit hohen Fenstern, vor denen helle Stoffe hingen, an den Decken nackte Glühbirnen und an der Wand über dem Schreibtisch hingekritzelte Telefonnummern und Gedankenfetzen. Sogar die schweren braunledernen Sessel waren dieselben.
    »Ich muss noch mal weg«, sagte mein Bruder, während er aus einem kleinen Tütchen weißes Pulver auf den Tisch streute. »Es dauert nicht lange, und wenn ich wiederkomme, machen wir irgendwas zusammen.« Er nahm eine Kreditkarte und zerkleinerte das Pulver. Ich sah ihm dabei zu.
    »Ist das Kokain?«
    »Ja.« Er schob einen Teil des Pulvers mit der Kreditkarte zu einer Linie zusammen. »Willst du mal probieren?«
    »Ich weiß nicht. Macht das nicht süchtig?«
    »Nicht, wenn man aufpasst, und beim ersten Mal schon gar nicht.«
    Mein Bruder zog eine zweite Linie. Ich zögerte. Mein Herz klopfte.
    »Na gut, aber nicht so viel.«
    Er schob die beiden Linien wieder zusammen und formte mit der Kreditkarte jetzt zwei größere und zwei kleinere. Dann nahm er einen gerollten Geldschein und zog erst die eine, dann die andere der größeren Linien in ein Nasenloch, während er sich das jeweils andere mit einem Finger zuhielt.
    »Du musst es schnell und tief schnupfen, sonst wirkt es nicht richtig«, sagte er und gab mir den Geldschein. Ich beugte mich über eine der kleineren Linien, hielt mir ein Nasenloch zu und kniff die Augen zusammen. Ich sog das Pulver ein und hatte das Gefühl, als würde mein Herz noch etwas schneller schlagen. »Gut«, sagte mein Bruder. »Ich muss jetzt los, bis nachher.« Dann ging er.
    Ich lief durch seine Wohnung und schaute mich um, dann rief ich Pit an, doch er war nicht zu Hause. Ich las das Blatt, das in die Schreibmaschine gespannt war. Da stand, dass schon Nostradamus vorausgesagt habe, dass am Ende ein Mann mit einem Feuermal auf der Stirn in bester Absicht den Untergang der Welt einleiten werde. Ich rief Pit an, doch er war nicht zu Hause. Ich schaute auf die Uhr. Es war erst sechs, und mein Bruder hatte nicht gesagt, wann er wiederkäme. Ich schaltete den Fernseher ein. Im Osten zeigten sie Bilder von einem Zugunglück in Indien, und im Westen lief irgendeine piefige Vorabendserie. Ich machte den Fernseher wieder aus und rief Pit an, doch er war nicht zu Hause. Ich überlegte, irgendjemand anderen anzurufen, aber ich hatte Angst, meine Freunde würden merken, dass ich Drogen genommen hatte. Ich sah aus dem Fenster und beobachtete, wie eine Frau aus einem Taxi stieg und wie ein Mann mit Hund in einem Hauseingang verschwand. Ich ging in die Küche, schaute in den Kühlschrank, doch der war fast leer. Ich fand eine Büchse Erdnüsse, füllte ein Glas mit Wasser und trug beides ins Wohnzimmer. Ich wählte meine Telefonnummer, doch Pit war nicht zu Hause. Ich ging zum Regal mit den Videokassetten und entschied mich für »Scarface«. Als

Weitere Kostenlose Bücher