Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
Vom Netzwerk:
der Film nach zweieinhalb Stunden zu Ende war, rief ich Pit an. Doch er war nicht zu Hause. Es war jetzt zehn, und ich überlegte, ob ich einfach nach Hause fahren sollte. Da ich aber fürchtete, man würde an der Grenze bemerken, dass ich Drogen genommen hatte, blieb ich, stellte »Scarface« zurück ins Regal und zog »Sunset Boulevard« heraus. Um Mitternacht war auch dieser Film zu Ende, mein Bruder war immer noch nicht da, und auch Pit war nicht zu Hause. Ich stellte »Sunset Boulevard« wieder zurück und schob »Der Sinn des Lebens« von Monty Python in das Gerät. Es war zwei Uhr, als ich auch diesen Film zurückstellte und mich für einen Porno entschied, bei dem ich schließlich einschlief.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag mein Bruder in seinem Bett und schlief. Ich schloss leise die Tür hinter mir und fuhr nach Hause. Pit war noch immer nicht da. Ich legte mich hin, dachte noch, dass ich das mit dem Koks auch lassen könnte, und schlief wieder ein.
    Pech gehabt, dachte ich also, als eine Woche später die Mauer aufging. Jetzt kann ich nicht mehr alleine rübergehen. Jetzt ist es vorbei mit der Ruhe. Ich schämte mich für diesen Gedanken, doch ich schämte mich genauso für die Leute, die im Fernsehen vom glücklichsten Tag ihres Lebens sprachen, um dann mit verzückten Gesichtern durch die Straßen Westberlins zu taumeln und sich wie hungrige Tiere um die Lastwagen zu rudeln, die ihnen exotische Früchte zuwarfen.
     
    Auch Pit taumelte verzückt, jedoch aus einem anderen Grund. Wir hatten mal gewettet, wer von uns sich zuerst verlieben würde: Ich tippte auf ihn und er auf mich. Jetzt hatte ich gewonnen, doch ich freute mich nicht. Es tat weh, als er seinen alten Lederkoffer aus meiner Wohnungstür trug. Allerdings hatte ich nicht viel Zeit, mir leid zu tun – das Leben war viel zu aufregend. Es machte Spaß und war chaotisch, und am Ende eines Tages wusste niemand, was der nächste bringen würde.
    Auch im Turm des alten Rundfunkgebäudes veränderte sich alles. Wir entmachteten die Chefetage und beschlossen die Selbstverwaltung, wir öffneten die Giftschränke und spielten die verbotenen Songs, wir schmissen das alte Programm über den Haufen und machten ein ganz neues. Wir machten Radio wie nie zuvor und niemals mehr danach. Dazwischen jedoch flog ich erst einmal nach Amerika. Zu Matthew.
     
    Ich hatte Matthew im Februar des Jahres getroffen, in dem mein Land für immer verschwinden würde. Er war Journalist und begleitete eine Band aus New York, die zum ersten Mal in Ostberlin spielte und die ich interviewen wollte. Beim Konzert standen wir nebeneinander, redeten danach miteinander, und weil die Jungs einige Tage in Berlin blieben, fanden wir irgendwann auch zueinander.
    Matthew wollte ganz genau wissen, was hier im Land vor sich ging und was ich dazu sagte. In schmalem Englisch versuchte ich ihm zu erklären, was ich mir selbst in Deutsch noch gar nicht richtig erklären konnte. Ich sprach von meiner Sorge, dass mit dem Land auch die Möglichkeit verschwinden könnte, etwas Besseres daraus zu machen.
    »Das müsstest du mal den Leuten in Amerika erklären«, sagte Matthew. »Dort glauben sie, ihr wärt das glücklichste Volk der Welt.«
    »Das ist kein Wunder«, sagte ich. »Die meisten hier glauben das ja auch.«
    Matthew verdiente zwar als Journalist sein Geld, doch lieber als über amerikanische Bands in Ostberlin schrieb er über die verrückten Ideen noch verrückterer Erfinder und Philosophen. Manchmal las er mir aus seinen Texten vor, und auch wenn ich nicht alles verstand, liebte ich es, ihm zuzuhören. Die Worte rollten weich durch seinen Mund, so dass ich manchmal das Gefühl hatte, von seiner Stimme aufgesogen zu werden – es war magisch. Magisch waren allerdings auch meine Telefonrechnungen, nachdem Matthew wieder nach New York zurückgekehrt war. Er verdiente nicht viel, und da ich gerade Geld von meinem Vater geerbt hatte, bezahlte ich unsere Gespräche. In den letzten Monaten seiner Existenz machte mein altes, sterbendes Land noch einmal richtig viel Kohle mit mir: dreizehn Mark in der Minute, zehntausend Mark in drei Monaten. Einmal brachte ich es fertig, in nur 193  Minuten 2 509  Mark zu vertelefonieren; es war mir egal – ich war verliebt, das Geld war geschenkt, und wenn es im Sommer in Westgeld umgetauscht würde, wäre es sowieso nur noch die Hälfte wert.
    Wenn wir nicht stundenlang telefonierten, schrieben wir uns Briefe, die, verglichen mit unseren

Weitere Kostenlose Bücher