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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Geschenk gemacht. Er hatte ihm das Versprechen geschenkt, mit ihm innerhalb eines Jahres alle fünfzehn Bezirksstädte der DDR zu besuchen. Doch für meinen Bruder war das kein Versprechen, sondern eine Drohung. Er hatte recht – da hatte ich es besser.
    Mein Bruder drückte seine Zigarette aus, zahlte, und wir gingen durch den kalten, grauen Nachmittag nach Hause. Seine Freundin hatte gekocht und die vierte Adventskerze angezündet. Wir setzten uns an den schweren Tisch, aßen Schnitzel mit Bratkartoffeln und guckten Kinderfernsehen. Am Abend sollte ein Film laufen, in dem mein mittlerer Bruder mitspielte. Eine kleine Rolle nur, aber eine sehr wichtige, wie er mir mal am Telefon erklärte. »Mit mir steht und fällt der ganze Film, weißt du«, flachste er. »Manche sagen allerdings, er fällt eher.«
    In dem Film ging es um den Bewohner eines jüdischen Ghettos, der vorgibt, ein Radio zu besitzen. Er erzählt den Leuten, dass er gehört habe, die Russen kämen und dass der Krieg bald zu Ende sei. Mein Bruder spielte einen Rundfunkmechaniker, hatte einen Auftritt und musste genau sechs Sätze sagen. »Du musst mal darauf achten, wie lässig ich da an der Wand lehne und nichts tue mit meinem Gelben Stern. Das ist absolut oscarverdächtig!«
    Jetzt saßen wir also hier bei meinem jüngsten Bruder in der Wohnung und würden meinen mittleren Bruder gleich in seinem Film sehen. Ich war aufgeregt und glücklich.
    »Vielleicht ist es ja nicht so schlecht, dass du die Alte nicht mehr so oft siehst«, sagte mein Bruder plötzlich. Ich mochte es nicht, wenn er meine Mutter »Alte« nannte. Bei meinem Vater machte es mir nichts aus, weil er eben der Alte war. Doch bei meiner Mutter tat es mir weh.
    »Warum denn?«
    »Sie konnte nie viel mit dir anfangen.«
    Die Freundin meines Bruders schaute ihn vorwurfsvoll an. »Lass sie in Ruhe«, sagte sie. »Hör auf, deiner Schwester solchen Blödsinn zu erzählen.«
    »Wieso«, sagte mein Bruder schulterzuckend. »Ist doch wahr.« Er öffnete eine Flasche Bier, nahm einen großen Schluck und rülpste laut. Das machte er oft, und normalerweise hätte ich darüber gelacht und »du Schwein!« zu ihm gesagt. Doch irgendwas stimmte nicht.
    »Wie meinst du das?«, fragte ich ihn.
    »So, wie ich es sage. Sie liebt dich nicht. Du gehst ihr auf die Nerven. Das hat sie mir selbst mal gesagt.«
    Ich starrte auf den Fernseher, in dem der Nachrichtensprecher tonlos die Meldungen verlas. Mein Bruder und ich hatten die Nachrichtensendung zu Hause oft mit Komikerschallplatten unterlegt und uns dabei totgelacht. Jetzt war es die Stimme meines Bruders, die jene des Sprechers ersetzte. »Als du neulich deine Tage bekommen hast, hat sie sich bei mir beschwert und gesagt: Jetzt geht das auch noch los.« Der Nachrichtenmann verzog keine Miene, als er diesen Satz sagte, schaute von seinem Blatt auf und mir direkt ins Gesicht.
    »Hör endlich auf damit!« Seine Freundin war jetzt sehr wütend. »Du tust ihr weh, merkst du das nicht, du Idiot?«
    Er merkte es nicht, der Idiot. Und ich glaubte ihm nicht.
    »Du spinnst ja«, sagte ich und versuchte, so ungerührt wie möglich zu klingen. Die Freundin meines Bruders war jetzt stinksauer.
    »Du bist doch wirklich das Letzte. Du selbst kannst es kaum aushalten, wenn man dir eine unangenehme Wahrheit sagt, aber austeilen kannst du wie kein anderer.«
    »Jetzt reg dich wieder ab! Sie wird’s überleben«, sagte mein Bruder herablassend und verschwand im Nebenzimmer. Seine Freundin setzte sich auf die Lehne des Plüschsofas und legte ihren Arm um meine Schulter. Sie roch gut. Nach Pfefferminz und Tannenduft-Räucherkerzen. »Du kennst doch deinen Bruder«, sagte sie sanft. »Er ist manchmal so ungerecht. Er meint es nicht so.« Ich war froh, dass sie das sagte. »Ich weiß«, antwortete ich. »Und außerdem ist es nicht wahr.«
    »Und außerdem ist es nicht wahr«, sagte sie.
    Mein Bruder kam ins Zimmer zurück. Er trug ein geblümtes Sommerkleid, hatte eine Badekappe auf dem Kopf und schnitt schlimme Grimassen. »Seht mich an!«, rief er aus. »Ich bin der Vorsitzende der Sozialistischen Beklopptenpartei Deutschlands.« Ich prustete los. Wir lachten. Alle drei.
    Und dann setzten wir uns vor den Fernseher und guckten den Film, in dem mein mittlerer Bruder wie versprochen sehr lässig mit seinem Gelben Stern an der Wand lehnte und seine sechs Sätze sprach. Er war der tollste Schauspieler, den ich je gesehen hatte.
    Ich sprach mit meinem jüngsten Bruder nie mehr

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