Ab jetzt ist Ruhe
über das, was er mir gesagt hatte. Ich hatte keine Lust, es noch einmal zu hören, und außerdem war es nicht wahr.
Nach den Feiertagen fuhr ich wieder zurück. Mein Vater holte mich vom Bahnhof ab und erzählte mir, dass es meiner Mutter etwas besser gehe und wir sie besuchen könnten, wenn ich wolle. Wir fuhren ins Krankenhaus, doch sie schlief, als wir ankamen. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen – ganz zart und zerbrechlich lag sie da und atmete ruhig und tief. »Lass uns gehen«, sagte mein Vater. Wir gingen.
Das Jahr ging auch. Es war das vierte, das ich in dieser Stadt verbracht hatte. Und es sollte das letzte sein.
Fünf
» L eb wohl, meine Kleine.« Das hatte mein Vater noch nie zu mir gesagt. Er war kein pathetischer Mensch. Er war pragmatisch, rational. »Leb wohl« – das war ein Satz, der nicht in sein Vokabular passte. Ich war fast vierzehn, und es war spät, als er diesen Satz sagte. Er war nach Hause gekommen, ich hörte seine Schritte im Flur. Er ging vor meiner Tür auf und ab. Ich drehte mich zur Wand und stellte mich schlafend. Irgendwann kam er in mein Zimmer, setzte sich auf die Kante meines Bettes und schwieg. Mehrere Minuten saß er so. Schließlich seufzte er tief und sagte leise: »Leb wohl, meine Kleine.« Dann stand er auf und verließ mein Zimmer. Mein Herz schlug, ich hatte Angst. Etwas war falsch.
Es war plötzlich so still in der Wohnung. Ich stand auf und schlich durch den Flur zu seinem Arbeitszimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, ich spähte hinein. Mein Vater saß an seinem Schreibtisch vor dem Fenster und schrieb etwas auf ein Blatt Papier. Er zerknüllte es, warf es in den Papierkorb und beschrieb ein neues Blatt. Diese Prozedur wiederholte sich einige Male, bis er irgendwann mit seiner Arbeit zufrieden zu sein schien. Er platzierte die beschriebene Seite sorgfältig vor sich auf der Tischplatte und erhob sich. Ich flüchtete in mein Zimmer und schloss leise die Tür. Atemlos lauschte ich. Mein Vater ging schweren Schrittes den Flur entlang und verließ die Wohnung. Ich lief in sein Zimmer, nahm das Blatt Papier von seinem Schreibtisch und las. Es war ein Abschiedsbrief. Er enthielt die Botschaft, dass mein Vater mit einem Konflikt, von dem ich nichts wusste und den ich nicht verstand, nicht länger leben wollte. Er bat mich, ihm zu verzeihen und meiner Mutter, die mit Krebs im Krankenhaus lag, zu sagen, dass er sie liebe.
Mein Vater wollte sich das Leben nehmen. Der Satz lärmte in meinem Kopf. Ich wusste, dass er im Tresor seines Büros eine Dienstpistole aufbewahrte – das hatte mir mein Bruder irgendwann erzählt. Also rannte ich zum Telefon und wählte die Nummer seines Büros. Ein diensthabender Wachmann meldete sich in breitem Sächsisch und mit korrekter Angabe seines Dienstgrades. Die Zeit, in der er das tat, hätte ich locker nutzen können, um selbst hinzufahren und nach dem Rechten zu sehen.
»Hallo, mein Vater ist der Zweite Sekretär. Ich glaube, er will sich was antun!«
»Nun mal ganz langsam, junges Fräulein. Und immer schön der Reihe nach. Wer …«
»Nein!«, fiel ich ihm ins Wort. »Mein Vater will sich umbringen, er hat einen Abschiedsbrief geschrieben. Sie müssen gucken, was er macht!«
»Wir müssen hier überhaupt nichts.« Er machte zwischen jedem seiner Worte eine unendlich lange Pause. »Immer mit der Ruhe, so schlimm wird’s schon nicht sein. Ich gehe nachsehen, ob ich den Genossen finde.« Der Hörer wurde aufgelegt. Mechanisch legte ich meinen Hörer auch auf, ging ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Es war drei Uhr nachts, und ich war allein. Unfassbar allein.
Eine Stunde später schloss jemand die Wohnungstür auf. Zwei fremde Männer standen vor der Tür. In ihrer Mitte mein Vater. Zerstört.
Auf meine Frage nach dem Warum antwortete er später einsilbig: »Da war nichts. Ich habe einen Fehler gemacht.« Er sagte diesen Satz in jenem leisen, bedrohlichen Ton, der weder Widerspruch noch Nachfrage duldete. Für mich hatte die Angelegenheit erledigt zu sein.
Erst nach seinem Tod erfuhr ich die ganze absurde Geschichte hinter diesem noch absurderen »Nichts«. Mein Funktionärsvater hatte sich an jenem Tag mit irgendwelchen Wichtigleuten aus der Parteiführung getroffen. Es ging um die Durchsetzung der Beschlüsse des soundsovielten Plenums der Partei. Nach der Arbeit gingen sie in eine Kneipe, aßen gut und tranken viel. Der Alkohol lockerte die Zunge meines Vaters. Er beanstandete dies und jenes, rieb
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