Ab jetzt ist Ruhe
und brachte jedes Mal selbstgemachte Buletten mit, aus denen das Fett troff, weswegen sie auch immer im Mülleimer landeten, sobald Christa wieder weg war. Sie ging einmal durch die Wohnung, die ich vorher notdürftig aufgeräumt hatte, schaute in den Kühlschrank und fragte, ob alles in Ordnung sei und ich irgendetwas brauchte. Es war alles in Ordnung, und ich brauchte nichts. Am Freitagabend kam mein Vater nach Hause und fuhr am Sonntagabend wieder weg.
Im Mai hatte ich Jugendweihe. Unspektakulär und leise. Mein jüngster Bruder kam aus Leipzig, mein Vater führte uns in ein teures Restaurant zum Essen aus und fuhr danach wieder nach Berlin. In den Ferien flog er mit mir in die Sowjetunion. Wir reisten mit einer Gruppe älterer Leute und besuchten Moskau, Leningrad und eine alte russische Stadt mit vielen Kirchen und Klöstern. Der Himmel war groß über dem Land, doch die Städte langweilten mich genauso wie die Leute in der Reisegruppe und der belehrende Ton meines Vaters, wenn er mir etwas erklärte. Ich wäre lieber zu Hause geblieben und war froh, als die Reise zu Ende war. Wir kehrten zurück, der Sommer kam, und dann zogen wir wieder nach Berlin. Endlich.
Sechs
W ir bezogen eine Vierzimmerwohnung im neunten Stock eines Hochhauses, in dem so viele Leute wohnten wie in einer kleinen Stadt.
Meine Schule lag vor der Haustür und mit ihr alle Annehmlichkeiten, die ich schon von der Neubausiedlung in Karl-Marx-Stadt kannte – also keine. Doch das war egal. So neu und unbekannt mir die Gegend auch noch war, in der ich jetzt lebte – ich war wieder zu Hause.
Ich kam in die neunte Klasse und war neugierig auf die Leute, die ich dort kennenlernen würde. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass in Berlin die Uhren anders und irgendwie schneller tickten als in Karl-Marx-Stadt, doch mir schien, als käme ich in eine Klasse mit Erwachsenen. Viele Jungs hatten lange Haare, und die meisten Mädchen waren schon Frauen und bewegten sich auch so. Ich kam mir fast zurückgeblieben vor und musste dringend etwas unternehmen. Ich kaufte mir Wimperntusche, zog die schwarzen Knautschlackstiefel meiner Mutter an und stopfte den Schaft, der um meine nicht vorhandenen Waden schlackerte, mit Socken aus. Die Stiefel machten mich ein paar Zentimeter größer, die Schminke drei Jahre älter – ich passte ins Bild und war zufrieden.
Unsere Klassenlehrerin war eine kleine, energische, aber nicht unfreundliche Frau. Bei ihr hatten wir Mathematik. Das andere Fach, das ich hasste, war Physik und wurde von Herrn Günther unterrichtet. Herr Günther war knapp über dreißig, groß und schlank und sah toll aus. Alle Mädchen waren in ihn verknallt. Auch ich. Doch sosehr ich mich auch anstrengte, ihm zu imponieren – ich kapierte den Stoff einfach nicht und bekam nur Dreien und Vieren. Wenn Herr Günther mich ansah, dann also meist mit einem Ausdruck der Missbilligung. Die Hoffnung, dass er sich in mich verlieben würde, gab ich schnell wieder auf. Außerdem hatte er eine schöne junge Frau mit rotem Haar, die ihn manchmal von der Schule abholte.
Die Tage flogen dahin – fast fühlte ich mich, als sei ich nie weg gewesen. Alles war leicht und hell. Nur manchmal vor dem Einschlafen legte sich dunkle Angst zu mir ins Bett. Meine Mutter würde sterben – daran gab es inzwischen keinen Zweifel mehr. Mein Vater wollte nicht, dass ich mit ins Krankenhaus kam, und ich fühlte mich schuldig, weil ich ihm dankbar war dafür. Ich wollte nicht sehen, wie meine Mutter immer mehr verschwand.
»Sie kommt nach Hause«, sagte mein Vater eines Tages. »Sie will sehen, wo wir wohnen. Ich hole sie am Sonntagnachmittag ab und bringe sie abends wieder zurück.« Er brachte sie nach Hause und führte sie langsam und vorsichtig durch die Wohnung. Als sie in mein Zimmer kam, huschte ein dünnes Lächeln über ihre blassen Lippen: »Wenn ich weg bin, räumst du gefälligst auf, Süße! Sonst komm ich nicht wieder.« Ich räumte auf, doch sie kam nicht wieder.
Kurz vor Weihnachten kehrte mein Vater aus dem Krankenhaus zurück und sagte: »Deine Mutter ist tot. Du musst morgen nicht in die Schule gehen, wenn du nicht willst.« Er nahm mich in den Arm und erwartete wohl, dass ich losheulte. Er wartete umsonst. Keine Sturzbäche von Tränen, keine ohnmächtige Verzweiflung. Nichts. Nur schwere Leere. »Deine Mutter ist tot« war ein Satz, der nichts beinhaltete. Ich schrieb an diesem Tag in meinen Kalender »Meine Mutter ist tot«. Ich weinte auch am
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