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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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die Erweiterte Oberschule geschickt, hat sich daran was geändert?«
    »Natürlich nicht.« Der Direktor wirkte auf einmal verunsichert, und das süffisante Grinsen, das die ganze Zeit auf seinem Gesicht gelegen hatte, war verschwunden. »Ich dachte nur, du hättest Interesse daran, dass deine Tochter …«
    »Ich habe kein Interesse daran, dass meine Tochter bevorzugt wird«, unterbrach mein Vater den Direktor und schaute ihn grimmig an. »Wenn sie nicht zu den Besten gehört, macht sie auch kein Abitur. So einfach ist das.«
    Man konnte meinem Vater viel vorwerfen: Er war rechthaberisch, autoritär, engstirnig und dogmatisch – doch er war auch geradlinig und auf eine fast puristische Weise genügsam. Vetternwirtschaft und Filz waren ihm zuwider. Sein Chef, der Erste Sekretär, hatte sich vor kurzem ein großes Haus bauen lassen und es mit Geldern bezahlt, die ihm nicht gehörten. »So etwas macht man nicht«, hatte mein Vater gesagt. »Es ist unmoralisch.« Ich bewunderte ihn für diese Haltung und wollte sie mir merken. Und jetzt, da der blöde Direktor in unserer Wohnung saß und meinem Vater dieses Angebot machte, spürte ich einfach nur Genugtuung.
    »Nichts für ungut«, sagte der Direktor kleinlaut, als mein Vater ihm nicht die Hand zum Abschied gab, und ging.
     
    In den Weihnachtsferien erlaubte mir mein Vater, meinen jüngsten Bruder in Leipzig zu besuchen. Ich fuhr das erste Mal allein mit dem Zug. Mein Vater hatte mir eine Platzkarte besorgt und begleitete mich ins Abteil.
    »Pass auf dich auf«, sagte er, »und glaub nicht alles, was dein Bruder dir erzählt. Er hat mitunter etwas merkwürdige Ansichten.« Ich wusste nicht, was er damit meinte, doch ich nickte. »Na klar, Papa.«
    Mein Bruder holte mich vom Bahnhof ab. Er hatte ganz kurze Haare, so kurz wie noch nie. Er sah interessant aus. So interessant wie noch nie. »Guck an! Meine kleine Schwelle wird erwachsen«, sagte er grinsend und nahm mich in den Arm. Wir fuhren mit der Straßenbahn zu seiner Wohnung, in der er mit einem hübschen Mädchen lebte, das genauso kurze Haare hatte wie er. Sie war lustig und sächselte nicht – ich mochte sie sofort.
    Die Wohnung der beiden lag unter dem Dach eines uralten grauen Hauses mit morschen Treppen, die unter jedem Schritt ächzten. Sie bewohnten zwei kleine Zimmer und eine Küche, die nur dann einigermaßen warm wurde, wenn man alle Flammen des Herdes entzündete. Es gab ein fadenscheiniges rotes Plüschsofa, einen schweren Tisch und ein paar Stühle, von denen keiner dem anderen glich. Auf dem Fußboden und dem Schreibtisch türmten sich Bücherstapel, die Fenster waren mit weißen Laken verhängt, an den Zimmerwänden hingen Plakate von französischen Filmen, und auch Jimi Hendrix war mit eingezogen.
    Mein Bruder zeigte mir die Stadt und die Universität, an der er Germanistik studierte.
    »Lange werd ich’s in diesem Saftladen nicht aushalten«, sagte er.
    »Wieso nicht?«
    »Acht Stunden am Tag Rotlichtbestrahlung – da wird man doch weich in der Birne!«
    »Rotlichtbestrahlung? Is’n das?«
    »Marxismus-Leninismus, Politische Ökonomie – der ganze Scheiß.« Er winkte genervt ab. »Wie Staatsbürgerkunde bei dir in der Schule, nur schlimmer und öfter.«
    Ich hatte seit ein paar Wochen Staatsbürgerkunde bei Frau Uhlig. Frau Uhlig war ein Wesen mit dünnem Haar, das durch das Klassenzimmer huschte wie ein Schatten. Schwer zu sagen, wie alt sie war – vielleicht dreißig, vielleicht auch fünfzig. Wenn sie mit der rechten Hand etwas an die Tafel schrieb, knabberte sie an den Fingernägeln ihrer linken. Sie erklärte uns die führende Rolle der Arbeiterklasse mit leisem, vorwurfsvollem Ton. Ich wusste also genau, wovon mein Bruder sprach. Wir setzten uns in ein kleines, verrauchtes Studentencafé in der Nähe des Universitätsgebäudes.
    »Wie geht’s zu Hause?«
    »Geht so. Wie immer eigentlich.«
    »Nervt der Alte sehr?«
    »Der ist kaum da.«
    »Und Mama?«
    »Weiß nicht. Ich darf nicht mehr mit ins Krankenhaus.«
    »Willst du denn?«
    »Nein.«
    Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch an die Decke. Wir schwiegen.
    »Erzähl doch mal was«, sagte er irgendwann.
    »Ich weiß nicht, es ist doch nichts weiter los.«
    »Du hast bald Jugendweihe. Hast du dir was gewünscht?«
    »Nö. Ich glaube, Papa will mit mir in die Sowjetunion.«
    »Nicht schlecht. Da hast du’s besser als ich damals.«
    Mein Vater hatte meinem Bruder zu dessen Jugendweihe ein sehr merkwürdiges

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